Horn gilt als hässliches Entlein mit vielen Problemen. Nun wollen einige Theaterleute mit einem Stadtteilspaziergang Vorurteile abbauen – Überraschungen inklusive. Freitag- und Samstagabend sind die nächsten Chancen, den Stadtteil so kennenzulernen.
Jüngst war Horn wieder einmal in den Schlagzeilen. Wie so oft, waren es keine guten. Der Gewinner des 147. Hamburg Derbys musste eine saftige Geldstrafe zahlen. Er hatte sein Pferd zu oft brutal gepeitscht. Tatort: die Horner Rennbahn. Der Name dieses Ortes fällt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, fragt man Hamburger, was ihnen zu dem rund 5,8 Quadratkilometer großen Stadtteil einfällt. „Dann kommt der Horner Kreisel – und danach kommt meist nicht mehr viel“, sagt Lars Ceglecki.
Der 44-Jährige steht an einem frühen Freitagmorgen an der Washingtonallee vor einem roten Backsteinbau. Ganz Horn ist damit zugepflastert. Die meisten Klinker sind nach dem Zweiten Weltkrieg hochgezogen worden. Vor dem Bäcker im Backsteinhaus sitzt ein älterer Mann mit Migrationshintergrund und zieht an seiner Zigarette. Eine Frau mit Rollator wird von ihrem hyperaktiven Dackel über den Gehweg gezerrt. Grüße! Man kennt sich in Horn.
Ceglecki ist kein Horner, er lebt in Kirchsteinbek, und Verwandtschaft hat er hier auch nicht. Trotzdem hat der Schauspieler und Regisseur sich den sogenannten Problemstadtteil als Arbeitsplatz ausgesucht. 38.296 Menschen leben östlich des Hauptbahnhofes. Es sind nicht die oberen Zehntausend. Der Anteil von Hartz-IV-Empfängern (17 Prozent) liegt deutlich über dem Hamburger Durchschnitt. Der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund (47,6 Prozent) liegt deutlich über dem Hamburger Durchschnitt. Der Anteil von Arbeitslosen (8 Prozent): liegt deutlich über dem Hamburger Durchschnitt. Horn ist ein bisschen wie Wilhelmsburg, bloß ohne das ganze „Sprung über die Elbe“-Aufwertungs-Gedöns.
Ceglecki hat mit seinen Kollegen Jan Holtappels und Sandra Kiefer vor zwei Jahren das Theater an der Washingtonallee übernommen. Mit 40 Plätzen liegt es deutlich unter dem Hamburger Durchschnitt für Theater. Es ist das kleinste. Ceglecki schwärmt davon, wie nah man in ihrem Theater als Zuschauer den Schauspielern ist. Irgendwie haben sie es geschafft, in eine Nische noch eine Bar zu quetschen. „Gemütlich, oder?“, fragt Ceglecki.
Prächtige Villen und gediegene Landhäuser
„Nicht mehr wegzudenken“, sei das Theater, lobt der Stadtteilverein Horn. Die Menschen scheinen dankbar zu sein, dass jemand den Theaterbetrieb weiterführt in einer Gegend, die mit Kulturangeboten nicht eben verwöhnt ist – sieht man von dem Kleinen Hoftheater und dem Kultur Palast Billstedt ab. Horn hat dafür andere Werte: Fast nirgends gibt es so viele Schrebergärten wie hier. Fast nirgends ist es so grün wie hier. Fast nirgends gibt es so viele Naherholungsgebiete, die so leicht erreichbar sind. Das weiß außerhalb von Horn bloß kaum jemand. Ceglecki und seine Kollegen wollen zeigen, dass Horn mehr zu bieten hat, als es sein Image als hässliches Entlein vermuten lässt. Seit einem Jahr führen sie darum Neugierige im Spätsommer durch den Stadtteil. Ihrem kulturellen Stadtspaziergang haben sie den schmissigen Titel „Horn to go“ gegeben – das klingt nach hippen Latte-macchiato-Trinkern.
Mit Hinz&Kunzt dreht Ceglecki exklusiv eine Vorabrunde. Während er im Schritttempo vorangeht, erzählt er von prächtigen Villen und gediegenen Landhäusern, die hier im 19. Jahrhundert noch zuhauf standen. Allesamt von großen, weitläufigen Gartengrundstücken eingerahmt. „Das war früher mal das, was Blankenese heute ist“, sagt er. Horn bedeutet wortgeschichtlich so viel wie Vorsprung. Ceglecki stoppt vor Horns ältestem Friseurladen, der in den 30ern eröffnete und heute „Frau Schmidt“ heißt. Friseurmeisterin Jessica Schmidt hat das Traditionsgeschäft 2014 von ihrer Chefin Helga Arndt übernommen. Die öffnete ihren Salon nicht nur, um Haare zu frisieren, sondern auch, um musikalischen oder komödiantischen Talenten eine Bühne zwischen Waschbecken zu geben, bei „Kultur im Salon“. Auch heute steht verloren ein E-Piano herum.
Ob nicht einer der wartenden Kunden sich mal fürs Foto dahinter setzen könnte, fragt Ceglecki und erntet Schulterzucken. Einer lässt sich schließlich überreden, entschuldigt sich aber, außer Flohwalzer könne er nichts. Während Fotograf Mauricio Bustamante noch seine Kamera justiert, schmettert der vermeintliche Laie plötzlich mit beeindruckender Stimme Supertramps „The Logical Song“ und bearbeitet dazu perfekt das E-Piano. „I know it sounds absurd but please tell me who I am.“ Wie sich später herausstellt: Es ist Fridtjof Bundel, Schauspieler, Sänger, Chorleiter und Musiker und ein eingeweihter Teil des Stadtspaziergangs.
Inoffizielle Stadtteilgrenze: Die Horner Rennbahn
Weiter zur Horner Rennbahn, genauer: zu deren Seiteneingang. „Der steht eigentlich immer offen“, sagt Ceglecki. Ein Schild weist auf die Trainingszeiten des örtlichen Hundesportvereins hin. Es gibt einen Minigolfplatz, einen Spielplatz und einen Sportplatz. Und Bänke zum Ausruhen. Die Rennbahn ist aber auch die inoffizielle Grenze des Stadtteils: zwischen der Horner Geest oben und der anderen Seite unten. Nicht ganz die Düsseldorf-versus-Köln-Liga, aber viel zu tun miteinander hat man traditionell nicht.
Im vergangenen Jahr traf eine „Horn to go“-Gruppe hier auf der Rennbahn unvermutet auf einen Mann im schwarzen Anzug und Pferdekopf. Der skurrile Zeitgenosse ging wortlos an der Gruppe vorbei. Auf Fragen, ob das zur Tour gehöre, schwieg sich der Stadtführer aus. „Wären wir nicht in Horn, sondern in Berlin, würde sich keiner über so einen Aufzug wundern“, sagt Ceglecki und lacht. Der Pferdemann gehörte natürlich dazu. Die Macher brechen bewusst mit Sehgewohnheiten.
Durch den Fußgängertunnel geht es vorbei an Graffiti. Statt bunten Tags haben Mitglieder des Horner Jugendparlaments hier wichtige Stationen der Horner Geschichte auf Beton verewigt: von Beginn der Gründung als Dorf 1306 über die S-Bahn-Strecke mit Pferdewagen bis zur 700-Jahr-Feier 2006. Stargast damals: Guildo Horn. „Den Tunnel kennen viele, aber ich glaube, die wenigsten gucken sich an, was hier an den Wänden zu sehen ist“, vermutet Ceglecki. Würden sie es doch tun, würden sie lesen, dass in Horn im Jahr 1839 der Adventskranz erfunden wurde – von Johann Hinrich Wichern, der das Rauhe Haus gründete. Noch heute kümmert man sich hier um benachteiligte Kinder und Jugendliche.
Raus aus dem Tunnel. Da steht seit Kurzem die Horner Freiheit – ein schmuckes, neues Stadtteilzentrum. Eine Bücherhalle ist unten drin, auch die AWO und der Stadtteilverein haben hier ihr Büro. Und ein großes Café, endlich. Das hat gefehlt. Eine kleine Seitenstraße vorm Zentrum ist nach Anna Lühring benannt. Als Mann verkleidet war sie 1813 als Soldatin in die Befreiungskriege gegen Napoleon gezogen. „Man nennt sie auch die Johanna von Horn“, sagt Ceglecki und überlegt, welche bekannten Horner er noch aufzählen könnte (Hark Bohm! Loki Schmidt!). Passenderweise sitzt da Gudrun auf einer Parkbank und strickt. Gudrun ist seit mehr als 50 Jahren Hornerin, kennt jeden und jeder kennt sie. Gudrun sitzt natürlich auch nicht zufällig hier und erzählt auf Nachfragen Geschichten aus ihrem Stadtteil.
Ceglecki will weiter – zur Löwen-Statue in Blohms Park. „Eigentlich waren das zwei. In einer sehr dunklen Nacht ist einer dieser äußerst unhandlichen Löwen tatsächlich verschwunden“, sagt er und hält vor dem etwas verloren wirkenden Restexemplar an. „Der hier guckt ganz sehnsuchtsvoll, oder?“, fragt er, bevor er weitergeht in Richtung einer Hängebuche mitten auf der Wiese. Nicht nur bei typischem Hamburger Schmuddelwetter ein guter Rückzugsort – wie schwere Vorhänge wölben sich die grünen Äste gen Boden. „Meine Station ist immer schön trocken“, sagt Laila Mahfouz, die hier gleich eine ihrer Kurzgeschichten vortragen wird. Sie handelt von einer Frau, die von ihrem Ehemann an einer Raststätte vergessen wird. Horn soll nicht das gleiche Schicksal ereilen.
Horn to go, nächste Termine: 16.9., 18–20.30 Uhr, 17.9., 21 Uhr, 9 Euro + Vorverkauf, Karten unter 040/69 65 05 05, Theater Das Zimmer, Washingtonallee 42.