Immer wieder landeten Mathias Schmarje und Michael Klesper hinter Gittern. Wegen Drogen und Diebstahl. Es wäre wohl noch ewig so weitergegangen, wenn die beiden nicht eines Tages den Verein Integrationshilfen kennengelernt hätten.
An den Tag seiner Haftentlassung erinnert sich Mathias Schmarje noch gut. „Als ich raus bin, wollte ich erst mal nur was Vernünftiges essen. Ein richtiges Steak beim Block House“, erzählt der 39-Jährige. Aber dann sei der ganze Tag mit Ämtergängen ausgefüllt gewesen. Abends hätte er sich schließlich ein Kotelett aus dem Supermarkt gebraten. Trotzdem sei er zufrieden gewesen, sagt er rückblickend und kann ein freudiges Grinsen nicht verbergen. Denn neben all der Lauferei, dem verpassten Restaurantbesuch hielt der Tag eine viel positivere Nachricht für ihn parat: Mathias Schmarje hatte wieder eine Wohnung. Und somit eine Küche, in der er selbst kochen konnte.
„Das war ein ganz neues Gefühl für mich“, sagt Schmarje. „Ich habe 17 Jahre Knast weg. Wegen Drogen, Hehlerei und Diebstählen. Die längste Zeit, die ich draußen war, war ein Jahr. Die kürzeste vier Tage.“ Draußen habe er nie richtig Fuß gefasst. „Kollegen hast du nach so einer Haftzeit keine mehr, da hat sich auch keiner mehr gemeldet. Und wenn du dann rauskommst, fragst du dich: und jetzt?“
Er sei bereits bei der Wohnungssuche gescheitert. Um nicht auf der Straße zu schlafen, suchte er in der Notunterkunft Pik As Zuflucht. „Das war die Hölle. Um den Laden zu ertragen, habe ich gesoffen wie ein Loch“, erzählt Schmarje. Sehr, sehr schnell sei er in seine alte Drogenszene abgerutscht. „Da war der Absturz vorprogrammiert.“
Lange Warteliste für WG-Zimmer
Dieses Mal aber soll alles anders werden. Woraus Schmarje seine Hoffnung schöpft? Weil ihn der Verein Integrationshilfen unterstützt. Seit 30 Jahren bietet der Verein ehemaligen Strafgefangenen eine „zweite Chance“. Sie lernen Bewerbungen zu schreiben, werden bei Behördengängen begleitet und können sich während der Haft um einen der 30 Plätze in dem Wohnprojekt des Vereins bewerben. 15 Wohngemeinschaften in ganz „normalen“ Wohnhäusern bietet der Verein. Weil die Bewohner eben nicht bei einschlägigen Adressen wie dem Pik As oder ähnlichen Einrichtungen gemeldet sind, fällt die Jobsuche und somit auch der Weg in ein „normales“ Leben leichter.
Die Zimmer sind begehrt. Die Warteliste daher lang. Und das, obwohl die Bewohner eigentlich möglichst schnell wieder die Übergangswohnungen verlassen sollen. Doch Wohnraum ist in Hamburg ein knappes Gut. Zudem gebe es Vorbehalte bei Vermietern. Wohnungssuche ist wie Arbeitssuche, sie kostet Zeit und Mühe. „Wir bieten Beratung und Unterstützung, aber wir nehmen niemanden etwas aus der Hand“, erläutert Integrationshilfen-Mitarbeiter Hans-Heinrich Kroll. „Mal ein freundliches Lächeln aufsetzen kann bei einer Wohnungsbesichtigung nicht schaden.“ Außerdem: Wer solche Ratschläge befolgt, der würde es mit der Zeit auch irgendwann schaffen.
„Wenn man aber einmal bei der Saga verkackt hat, dann findet man immer schwerer was“, hält Michael Klesper dagegen. Der 53-Jährige hatte Mietschulden bei der Saga GWG. Inzwischen allerdings habe er mithilfe der Integrationshilfe eine Privatinsolvenz durchgezogen. Eine zweite Chance räumt das städtische Wohnungsunternehmen ihm trotzdem nicht ein. Dabei erhielt Klesper von der Fachstelle für Wohnungsnotfälle sogar eine Stufe-3-Bescheinigung. Eine Art Blankoschein für Vermieter, denn alle Risiken übernimmt die Stadt. Trotzdem fand Klesper keine Wohnung.
„Ich führe jetzt ein ganz anderes Leben“
Sein Äußeres sei da sicherlich ein Problem, räumt Klesper ein. Dass der 53- Jährige ein wildes Leben geführt hat, sieht man ihm an. Mit 13 Jahren kam er erstmals in Kontakt mit Drogen. Mit 18 war er heroinabhängig. Als er wegen Beschaffungskriminalität später im Gefängnis landete, fing er an, sich mit Nadel und Faden selber zu tätowieren. Seine Arme sind übersät mit mehr oder weniger gelungenen Bildern. „Ich kann das nicht mehr ändern“, sagt Klesper heute. „Aber ich führe jetzt ein ganz anderes Leben.“ Seit bald 25 Jahren ist er weg vom Heroin. Nur ohne Substitutionsmittel ginge es nicht, so Klesper, der zudem „gerne mal einen kifft.“
Weil er trotz seiner Bemühungen keine Wohnung fand, lebt Klesper inzwischen seit vier Jahren in einer Wohnung der Integrationshilfen. „Ich hätte nicht gedacht, dass ich überhaupt so lange draußen bin“, sagt er, der bei den Sommerfesten und Gruppenausflügen des Vereins stets dabei ist. Er hat eine Stütze gefunden. Für ihn steht fest: „Etwas besseres als die Integrationshilfen konnte mir nicht passieren.“
Das sieht auch unser neuer Hinz&Kunzt-Mitarbeiter Olli so. Acht Jahre saß er wegen eines Gewaltdeliktes hinter Gittern. „Zu Recht“, sagt der 51-Jährige. Was ihn immer gestört hat: „Ich wurde nicht auf die Zeit nach dem Knast vorbereitet.“ In Hessen gab es auch nach Jahren keine Vollzugslockerungen für ihn. Um die Strafgefangenen wieder an die Welt draußen zu gewöhnen, erhalten sie gegen Ende der Haft begleiteten Freigang. Olli nicht. „Als ich dann raus bin, dachte ich die erste Zeit, jeder sieht mir das an“, erinnert er sich. „Zum Glück bin ich dann in Hamburg auf die Integrationshilfen gestoßen. Wer weiß, was sonst aus mir geworden wäre.“
Tatsächlich werde oft nicht genug für die Resozialisierung der Gefangenen getan, pflichtet ihm Kroll bei. „Aber die Situation hat sich verbessert“, so Peter Matthiesen, der Geschäftsführer von Integrationshilfen. Seit zwei Jahren werden alle Gefangenen von der Entlassenenhilfe spätestens sechs Monate vor Haftende befragt und ihnen Unterstützungsangebote unterbreitet. Und inzwischen würden auch mehr Gefangene hinter Gittern eine Ausbildung absolvieren.
Aus der Haft in die Obdachlosigkeit
„Die Frage ist nur, was nach der Entlassung Priorität hat“, sagt Kroll. Es sei zwar oft möglich, eine Arbeit zu finden. Doch viele ehemalige Strafgefangene seien überhaupt nicht arbeitsfähig. „Die müssen sich erst mal erholen, wenn sie entlassen werden“, stimmt ihm Schmarje zu. „Im Knast zeigt niemand Schwäche.“ Außerdem würden eben auch „drinnen“ Drogen konsumiert.
Bis zu zwölf Monate lang übernimmt das Amt die Kosten für die Wohnung eines Gefangenen. Aber viele kehren nach der Haft in die Obdachlosigkeit zurück. Auch Schmarje. Wenn er erzählt, gewinnt man den Eindruck, dass sich der 39-Jährige daran gewöhnt hatte, immer wieder hinter Gittern zu landen. Bei Integrationshilfen lässt man ihm so was nicht mehr durchgehen. „Hier wird mir in den Arsch getreten“, sagt Schmarje. „Und das ist auch gut so.“
„Wir haben natürlich auch schwarze Schafe“, sagt Kroll. Es komme schon mal vor, dass die Mieter über die Stränge schlagen. Es gebe Regeln, an die sich jeder halten müsse. Sonst könne die Arbeit nicht gemeinsam fortgesetzt werden. Das seien aber Ausnahmen. Für ihn stehe die Resozialisierung im Vordergrund. „Teilweise vergesse ich, warum die Leute mal hinter Gittern waren“, sagt der 60-Jährige.
Und dann erzählt er von einer Klientin, die in einem Theaterprojekt auf Kampnagel mitspielte. Sie war längst wieder auf dem Weg zurück in ein normales Leben. In dem Stück übernahm sie eine tragende Rolle – als Mörderin. „Erst als die Mopo titelte ‚Mörderin spielt Mörderin‘ fiel mir wieder ein, warum sie einst hinter Gittern war.“
Text: Jonas Füllner
Fotos: Mauricio Bustamante