Sie lebt mit der Angst, jederzeit zum Opfer werden zu können. Güllistan Avci hat ihren Verlobten Ramazan vor fast 27 Jahren verloren, totgeschlagen von Neonazis. Ein Besuch bei einer Frau, die weiß, wie es ist, wenn sie Ernst machen.
„Meine Rose.“ So hat Ramazan Avci seine Verlobte immer genannt, als er noch am Leben war. In der Gegend der Türkei, aus der Ramazan gebürtig war, spricht man so. Das ist kein Zufall, denn in Isparta werden traditionell Rosen gezüchtet und verarbeitet, zum Beispiel zu Rosenöl. „Rosen haben deswegen in meinem Leben eine besondere Bedeutung“, erzählt Güllistan Avci*. Auf ihrem Wohnzimmerschrank steht eine Vase mit Plastikrosen. Die sind zwar nicht echt, aber auch aus Isparta importiert. Schon damals, als Ramazan ihr seine Liebe gestand, in einer Hamburger Bäckerei, hatte er Rosen dabei. „Er hat mir erzählt, dass er sie auf einem Friedhof gestohlen hat“, erinnert sich Güllistan und lacht herzlich.
Güllistan Avcis Augen strahlen, als sie in ihrem Wohnzimmer von ihren ersten Treffen mit Ramazan spricht. Sie lacht und gestikuliert viel mit ihren Händen, erinnert sich gerne an die Zeit. Sie hat türkischen Honig und Schokoladenkuchen bereitgestellt, serviert Tee, Kaffee und Mineralwasser. Als sie über den Abend spricht, an dem sie ihren Ramazan das letzte Mal lebend sah, brechen plötzlich die Tränen aus ihr heraus. Es fällt ihr schwer, an diesen Abend im Krankenhaus zurückzudenken. Sie sitzt auf ihrem weißen Sofa in der penibel aufgeräumten Wohnung, hinter ihr die lila Gardinen, an ihrer Seite eine befreundete Übersetzerin. Die streichelt ihr über die Schulter, nimmt sie in den Arm, als die Tränen kommen. Die 50-jährige Güllistan spricht gebrochenes Deutsch, aber auf Türkisch fällt es ihr leichter, von Ramazan zu erzählen.
Es war ein Samstagabend, an dem Güllistan zu ihrem Ramazan ins Krankenhaus eilte. Der 21. Dezember 1985 war Ramazan Avcis 26. Geburtstag. Von seiner Geburtstagsfeier fuhr er abends noch mit einem Freund und seinem Bruder Veli los, wollte sein Auto verkaufen. Das Geld brauchte er für ein Kinderbett, denn seine Verlobte war hochschwanger. „Er hat sich nicht gemeldet, das hat mich wirklich gewundert“, erinnert sie sich heute. Während Güllistan zu Hause auf ihn wartete, fielen auf dem Rückweg am S-Bahnhof Landwehr Neonazis über ihn her, um die 30 sollen es gewesen sein. Erst bepöbelten die Nazi-Skins, die vor einer Kneipe standen, Ramazan und seine Begleiter. Es kam zu kleineren Handgreiflichkeiten, die Angegriffenen schlugen die kahlköpfigen Gewalttäter mit Pfefferspray in die Flucht – aber die Nazis kamen zurück, bewaffnet mit Baseballschlägern, Ketten und Axtstielen.
Die Nazi-Skins hetzten Ramazan auf eine Straße, er wurde von einem Auto erfasst. Das reichte den Rassisten aber nicht. Mit Baseballschlägern, Axtstielen und Fußtritten malträtierten sie ihr Opfer, droschen auf seine Beine, die Rippen und den Kopf ein. Eigentlich hatte Ramazan nur auf den Bus gewartet. Seinem Bruder und dem Freund gelang die Flucht in einen Linienbus, Ramazan schaffte das nicht. Das war sein Todesurteil. „Er war noch halb bei Bewusstsein, als sein Freund ihn fand“, erinnert sich Güllistan. „Es kam Blut aus seinem Ohr.“ Ramazan nahm alle Kraft zusammen, die er noch hatte, und sagte nur ein Wort: „Güllistan.“ Welche Botschaft hatte der junge Mann noch für seine Verlobte? Er konnte sie nicht mehr aussprechen. Seinen Sohn, Ramazan Cem, hat er nie zu Gesicht bekommen. „Bitte lass mich nicht sterben, bevor ich mein Kind gesehen habe“, hatte Ramazan einmal zu seiner Verlobten gesagt. Dass das wirklich passieren könnte, hatten beide nicht geglaubt.
„26 Jahre hat mich niemand nach meiner Geschichte gefragt.“
Das Bild, wie Ramazan im Krankenhaus lag, mit dem verbundenen Kopf und dem Kratzer im Gesicht, hat Güllistan bis heute nicht vergessen. Sie betrat den Raum und nahm seine Hand. „Komm, Ramazan, wir gehen!“, hat sie gesagt. Die Worte kamen wie von alleine. Aber von ihrem Verlobten kam keine Antwort, nie wieder. Drei Tage später, am Heiligabend, starb er an seinen schweren Verletzungen. Über 26 Jahre hat Güllistan diese Geschichte kaum jemandem erzählt. „Es hat mich niemand danach gefragt“, sagt sie. Ein Jahr lang habe es in den Medien Berichte gegeben, danach wurde es still, von vereinzelten Berichten zu seinem Todestag einmal abgesehen. Kein offizielles Gedenken, kein Mahnmal – obwohl es bereits damals die Forderung nach einem Ramazan-Avci-Platz gab. „Das ist vergessen worden. Außer uns hat niemand daran gedacht“, sagt Güllistan. „Wir waren der Gesellschaft nicht wichtig genug.“
„Ramazan war wirklich einzigartig“, erinnert sich Güllistan. Fürsorglich sei er gewesen, freundlich und hilfsbereit. Im Haushalt habe er mit angepackt, nicht einmal den Staubsauger musste seine Verlobte selbst in die Hand nehmen. Seit Ramazans Tod lebt Güllistan mit dem gemeinsamen Sohn alleine in einer Mietwohnung, in der kein Foto an seinen Vater erinnert. „Ich kann mir sein Bild nicht angucken“, sagt sie. Ihr Sohn trägt ein Foto in seiner Geldbörse bei sich.
Kennengelernt haben die beiden sich an Güllistans erstem Arbeitstag in Hamburg. 1984 war das, etwa einen Monat, nachdem sie von Heidelberg an die Elbe gezogen war. Ramazan und seine zukünftige Verlobte putzten damals in einem Bürogebäude, er im dritten, sie im zweiten Stock. „Ich zeige dir, wo du arbeiten musst“, war einer der ersten Sätze, die er zu ihr gesagt hat. Da hatte Ramazan schon die Entscheidung gefasst, Güllistan näher kennenlernen zu wollen. Kurz bevor sie mit der Arbeit fertig war, kam der junge Mann erneut vorbei. „Darf ich deinen Müll mitnehmen?“, hat er sie gefragt. Und ob er sie nach Hause bringen solle. Das war seine Art, sich interessant zu machen. Ihre Telefonnummer wollte er haben, doch Güllistan gab sie ihm zunächst nicht. „Ich überleg’s mir“, hat sie ihm gesagt. Wenige Tage später telefonierten die beiden ganze Nächte durch. Es hatte gefunkt.
Trotzdem fühlte Güllistan sich anfangs in Hamburg nicht wohl. Der Entschluss, wieder nach Heidelberg zurückzugehen, war eigentlich schon gefasst. Doch Ramazan machte ihr in seiner Wohnung eine Szene, erinnert sich Güllistan. „Ich hänge mich auf, wenn du gehst!“, habe er ihr gedroht. Wie ernst er das meinte, wagt sie heute nicht einzuschätzen. Aber da begriff sie, wie wichtig sie ihm war, wie ernst er es mit ihr meinte. Sie zieht bei ihm ein, wird schwanger. „Lass uns in die Türkei gehen“, schlug sie ihm vor. Doch daraus wurde nichts. „Vielleicht würde er dann noch leben“, sagt Güllistan sich heute. Fünf der Männer, die Ramazan totgeschlagen haben, wurden gefasst und verurteilt. Allerdings nicht wegen Mordes, sondern wegen gemeinschaftlichen Totschlags. Für Staatsanwaltschaft und Gericht blieb unklar, ob Rassismus das Motiv für das war, was damals wie heute viele als „Mord“ bezeichnen.
27 Jahre nach seinem Tod soll ein Platz nach Ramazan Avci benannt werden.
Wo die Täter heute leben, ist unbekannt. Vielleicht marschieren sie am 2. Juni zusammen mit 1000 anderen Neonazis durch Hamburg. An diesem Samstag wollen sie ihren „Tag der deutschen Zukunft“ begehen, einen der größten Naziaufmärsche in der Bundesrepublik. „Das macht mir Angst“, sagt Güllistan. „Diese Menschen sind gewissenlos und kaltblütig.“ Seit 28 Jahren lebt sie nun in Hamburg und sagt, sie hätte mit niemandem Streit. Und dennoch muss sie sich fürchten: „Man hat das Gefühl, jederzeit zum Opfer werden zu können.“ Am 21. Dezember 2012 soll ein Teil des Platzes vor dem S-Bahnhof Landwehr offiziell in Ramazan-Avci-Platz umbenannt werden, 27 Jahre nach seinem Tod. Für Güllistan Avci ein Erfolg. Ihre Augen fangen wieder an zu leuchten, als sie davon erzählt. „Das macht mich richtig glücklich“, sagt sie. Möglich wurde das durch die Initiative von Unterstützern, die die Forderung anlässlich seines 25. Todestages wieder auf die Agenda brachten. „In der Gesellschaft hat sich in den 27 Jahren nicht viel verändert“, sagt Güllistan. Aber die Morde der rassistischen Terrorzelle NSU hätten ein Klima geschaffen, in dem man sich wieder an die Opfer rechter Gewalt erinnere.
Güllistan haben die Nachrichten über die Mordserie im vergangenen Jahr psychisch sehr belastet. Jetzt freut sie sich darauf, einen Ort zu bekommen, an dem Ramazan weiterleben kann. Ein Mahnmal solle errichtet werden, nicht bloß eine Gedenktafel. „Jeder soll es sehen, jeder soll es wissen!“, fordert sie überschwenglich. Güllistan Avci will dann Rosen aus Isparta bringen lassen und neben das Mahnmal pflanzen. „Ich werde die dann auch pflegen“, sagt sie. Früher hat sie mal davon geträumt, mit ihrem Ramazan in der Türkei Rosen zu züchten. Die Rosen am Ramazan-Avci-Platz werden sie an diesen Traum erinnern. Und den Rest Hamburgs daran, dass rechte Gewalt auch nicht vor Todesopfern zurückschreckt.
Text: Benjamin Laufer
Fotos: Mauricio Bustamante
* Da die beiden nicht geheiratet haben, hat Güllistan den Namen Avci offiziell nie angenommen. Sie wird trotzdem so genannt – und will ihren richtigen Nachnamen nicht in der Zeitung lesen.