Die Winterkälte hat Osteuropa fest im Griff: hunderte Menschen sind dort schon erfroren. Besonders dramatisch ist die Situation in der Ukraine, wo mindestens 85.000 Obdachlose Hilfe brauchen. Doch die staatlichen Maßnahmen greifen zu kurz.
Bei Temperaturen bis minus 35 Grad ist das Leben auf der Straße ein Kampf ums nackte Überleben: Besonders aus Osteuropa erreichen uns erschreckende Zahlen von Menschen, die an der extremen Kälte gestorben sind. 64 obdachlose Menschen wurden in diesem Winter allein in den Straßen ukrainischer Städte bisher erfroren aufgefunden.
Zudem wurden dort Tausende Obdachlose mit Erfrierungserscheinungen und Unterkühlung in Krankenhäusern behandelt.Das Notfallministerium des Landes hat mehr als 3000 geheizte Zelte aufgebaut, die Obdachlosen zeitlich begrenzt Zuflucht bieten sollen, außerdem werden sie da mit Essen und heißen Getränken versorgt. Aber die staatlichen Mittel sind begrenzt, und da einfach zu viele Menschen Hilfe brauchen, werden die Meisten nach nur ein paar Stunden Erholung wieder in die bittere Kälte geschickt. Die Anzahl der Erfrorenen ist in ganz Osteuropa hoch, aber in der Ukraine starben mehr Menschen als in anderen Ländern. Die Notlage der Obdachlosen und die Schwierigkeiten des Staates, ihnen adäquate Hilfe zu bieten, ist offensichtlich.
100 soziale Einrichtungen für mehr als 11 Millionen Arme
„Offiziell wird angegeben, dass 85.000 Menschen um staatliche Hilfe gebeten haben. Das ist eine furchtbare Zahl, und zeigt, dass diese Menschen bisher keine Unterstützung hatten“, sagt Maryana Sokha, Editorin des Straßenmagazins Prosto Neba, das in der Stadt Lviv von Obdachlosen verkauft wird. „In der Ukraine arbeiten ungefähr 100 soziale Dienste für Obdachlose, davon 30 nichtstaatliche Organisationen (NGOs)“, erklärt sie. „Die Qualität dieser Dienste ist ein anderes Thema, aber reichen 100 Einrichtungen in einem Land mit 45 Millionen Einwohnern wirklich aus, wenn von ihnen ein Viertel in absoluter Armut lebt?“
Der Grund, dass so viele Menschen starben, ist laut Experten nicht nur der bitteren Kälte zuzuschreiben – sondern vielmehr den sozialen und ökonomischen Maßnahmen der ukrainischen Regierung, die zu mehr Obdachlosigkeit in den Straßen geführt hat, als es in anderen osteuropäischen Ländern gibt. Die Auswirkungen der Wirtschaftskrise sind in der Ukraine nach wie vor spürbar. Die Kältewelle forderte die meisten Toten in der Ostukraine, wo sich auch die meisten Arbeitslosen im Land befinden.
„Negative Einstellung zu obdachlosen Menschen“
„Man erkennt das Obdachlosigkeitsproblem in der Ukraine auch daran, wie viele Sozialdienste daran arbeiten, welche Qualität diese Dienste bieten, und die typische Haltung der Behörden und der Gesellschaft zu heimatlosen Menschen“, findet Sokha. Experten meinen ebenfalls, dass die negative Einstellung zu obdachlosen Menschen zu der mangelhaften Reaktion zur Kältekrise beigetragen hat. Sokha warnt, dass die Todesrate im Land wahrscheinlich viel höher liegt als offiziell festgehalten werden konnte: „Ich erwarte, dass wir viele Obdachlose später tot in leerstehenden Häusern oder Fabriken auffinden werden, wo sie vor der Kälte Zuflucht suchten.“
Die Regierung wurde in der Kältekrise unterstützt und beraten von NGO’s wie „Community of mutual aid Oselya“, welche bereits seit zehn Jahren mit Obdachlosen in Lviv arbeitet und das erste Projekt dieser Art in der Ukraine ist. Die Organisation hilft den Obdachlosen in der Stadt mit Projekten wie Straßensozialarbeit, Tageszentren, Bildungsangeboten, und dem Straßenmagazin Prosto Neba.
„Oselya-Mitarbeiter bieten Menschen in der Stadt täglich heiße Mahlzeiten, Tee und Kleidung; und sie geben auch Information zu weiteren Hilfeleistungen,“ erklärt Sokha. „Außerdem versuchen wir, Menschen in leerstehenden Häusern, Fabriken oder Kellern zu finden und sie zu überzeugen, Krankenhäuser oder Nachtasyle aufzusuchen. Das ist in unserem Land besonders wichtig, da Obdachlose es nicht gewohnt sind, Hilfe und Mitgefühl anzutreffen.“
Obdachlose brauchen nicht nur bei extremer Kälte Hilfe
Die hohe Zahl Toter in der vergangenen Woche zeigt das Obdachlosenproblem der Ukraine auf, ebenso wie die Erfolglosigkeit der Regierung in dieser Hinsicht. Trotz des momentanen Aufwandes wird einfach nicht genug getan, um den mindestens 85.000 Obdachlosen zu helfen, die heute in den Straßen der Ukraine um ihr Leben kämpfen. „Das Problem ist jetzt in den Medien, und das hat zu Diskussionen über mögliche Lösungen geführt. Die Öffentlichkeit wird über den Ernst der Lage für obdachlose Menschen informiert, und das ist eine neue Gelegenheit, die Mauern abzubauen, die zwischen Obdachlosen und der Gesellschaft immer noch existieren“, sagt Sokha.
Die nachhaltige Wirkung der „Schneenotunterstützung“ sieht sie jedoch skeptisch: „Natürlich ist es gut und wichtig, dass wir Dienste und Organisationen haben, die gerade jetzt an der Situation arbeiten und Menschenleben retten. Ich fürchte nur, dass das Thema bis zur nächsten Kältewelle wieder in Vergessenheit gerät.“
Street News Service / www.streetnewsservice.org