Schriftstellerin aus dem Schanzenviertel : Abschied von Fanny Müller

Fanny Müller ist tot. Die Schriftstellerin aus dem Schanzenviertel starb am 17. Mai im Alter von 74 Jahren. Sie war Hinz&Kunzt eng verbunden und unterstützte uns in den 2000ern unter anderem als Jury-Mitglied beim Hinz&Kunzt Schreibwettbewerb.

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Foto: Frank Taubenheim

Damals, 2006, sprach sie mit unserem Autor Frank Keil über ihre Lieben zum Lesen und Schreiben. Anlass war eine Benefizlesung zugunsten von Hinz&Kunzt. Welche Tipps sie Menschen mit zu wenig Zeit zum Lesen geben könne, wollte Frank Keil wissen. Fanny Müller musste nicht lange überlegen: „Fernseher wegschmeißen! Das habe ich vor sechs Jahren gemacht. Ich gehe abends um acht ins Bett, dann lese ich ein paar Stunden. Und dann ist gut.“ In Erinnerung an Fanny Müller veröffentlichen wir das Interview mit ihr und Rainer Moritz vom Literaturhaus erneut.

In Erinnerung an Fanny Müller findet zudem am Sonntag, 5. Juni, um 20 Uhr ein Gedenkabend im Polittbüro statt. Kollegen und Freunde lesen aus den Texten von Fanny Müller. Mit dabei sind Gerhard Henschel (Mod.), Klaus Bittermann, Susanne Fischer, Doris Gercke, Ernst Kahl, Richard Christian Kähler, Annette Köhler, Gerhard Kromschröder, Christian Maintz, Frank Schulz, Fritz Tietz, Dietrich zur Nedden, Lisa Politt und dem Orchester „Tuten & Blasen“ und Enno Dugnus am Flügel.

„Lesen war immer mein Liebstes“

(aus Hinz&Kunzt 163/September 2006)

Hinz&Kunzt: Herr Moritz, von Ihnen habe ich gerade Folgendes gelesen: „Wer das Leben bestehen und wer das Glück spüren will, braucht Bücher.“ Ist das nicht ein bisschen dick aufgetragen?

Rainer Moritz: Ja, es ist dick aufgetragen und hat mit meinem neuen Buch zu tun. Es heißt „Die Überlebensbibliothek für alle Lebenslagen“, und ich stelle darin Bücher vor, die man in bestimmten Lebenssituationen lesen sollte. Ich komme ja von der Literaturwissenschaft und habe mich schon während meines Studiums darüber geärgert, wenn man Bücher nur analysiert, nur sprachlich untersucht, aber gar nicht mehr nachfragt: Ja, warum lese ich das überhaupt? Was habe ich persönlich davon? Versammelt habe ich knapp 70 Bücher, Literatur, keine Sachbücher, von Goethes „Werther“ bis zu Karen Duve. Eine rein subjektive Liste, kein Kanon, Gott bewahre. Und fernab davon, Bücher eins zu eins als Lebenshilfe zu lesen. Es geht mir weder um abgehobene, lebensferne Germanistik, noch um plumpe Lebensratgeber wie diese unsäglichen Geschenkbücher, in denen steht: „Meine Gefühle liegen im Kühlschrank, bitte taue sie auf.“

Fanny Müller (intoniert): „Ich lege die Hand auf dein Knie und höre auf zu atmen…“

H&K: Frau Müller, wem helfen Ihre Bücher, das Leben zu bestehen?

Müller: Ich habe meine Bücher natürlich nie unter diesem Aspekt geschrieben. Das, was mir gerade passiert ist, habe ich aufgeschrieben, fertig. Aber mir haben mittlerweile sechs oder sieben Frauen gemailt, dass sie in Situationen waren, wo sie sehr depressiv waren, fast hin bis zur Einlieferung in die Psychiatrie, und sie hätten mein Buch „Keks, Frau K. und Katastrophen“ gelesen und das hätte sie wieder total nach vorne gebracht.

Moritz: Es sollte ja auch nie die Intention eines Literaten sein, unmittelbar Lebenshilfe anzubieten. Autoren, die sich hinsetzen und sagen: „Ich will Menschen bei ihrem Leben helfen“, deren Bücher möchte ich nicht lesen.

Müller: Männer fragen mich oft, warum ich nicht mal über andere Dinge schreibe. Also, die finden meine Sachen ganz toll! Neulich hat mir einer geschrieben, er sei geschieden, seine Exfrau würde ihm den Umgang mit den Kindern verweigern, darüber sollte ich mal schreiben! Nicht nur immer gegen die Männer…

Moritz: Das war aber nicht Mathieu Carriere?

Müller: Nee, der nicht. Und auch nicht dieser Matussek. Jedenfalls habe ich dem Mann geantwortet, dass er eine Schriftstellerin nicht mit einer Friedensrichterin verwechseln soll und einen gewissen Witz nicht mit Objektivitätspflicht. Die habe ich nämlich nicht.

H&K: Wie viel Bildung oder Wissen muss man haben, um Literatur zu genießen?

Müller: Wenn ich an meine Bücher denke, müssen die Leute nicht viel Bildung haben, um sie zu genießen. Komischerweise sind meine Leser aber Leute, die tatsächlich auf einem höheren Bildungsniveau sind. Um Humor zu haben, um bestimmte Formulierungen zu genießen, muss man vielleicht schon ein gewisses Sprachgefühl erworben haben. Bei einigen ist das aber auch angeboren.

Moritz: Wer viel gelesen hat, hat mehr davon. Es ist vielleicht nicht notwendig, aber ich kann den Genuss eines Buches natürlich erhöhen, wenn ich nicht nur der Handlung folge, sondern auch die Sprachebene betrachte. Das kommt erst im zweiten oder dritten Schritt hinzu.

H&K: Wie sind Sie jeweils zum Lesen gekommen?

Müller: Ich habe schwer lesen gelernt. Im ersten Schuljahr habe ich einfach auswendig gelernt, was in der Fibel stand, und mit einem Mal konnte ich dann lesen. Das war ganz merkwürdig. Danach habe ich alles, was irgendwie greifbar war, gelesen. Zu Hause hatten wir nur drei, vier Bücher stehen. Für Bücher war kein Geld da, außerdem war alles auf der Flucht verloren gegangen. Mit neun Jahren konnte ich dann gut lesen und habe mir Goethes „Faust“ vorgenommen – gereinigte Fassung für die Jugend. Und „Winnetou“, Band eins und Band zwei, und „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“. Diese Bücher standen bei uns neben der Hausbar. Dann kam ich aufs Gymnasium, das war in einer größeren Stadt – und da gab es eine Bibliothek. Das war ungeheuer: Da konnte man hingehen und sich Bücher leihen! Allerdings waren da zwei so alte Tanten, die mir scharf in die Augen guckten und raussuchten, was ich jetzt lesen darf.

Moritz: Also keine freie Wahl?

Müller: Überhaupt nicht. Ich hab dann querbeet gelesen: Jungmädchenbücher, Pearl S. Buck und solche Sachen. Als dann die rororo-Taschenbücher kamen, hab ich mir auch mal eins kaufen können, obwohl ich immer lange überlegt habe, welches. So bin ich langsam auf andere Bücher gekommen, die Klassiker der Weltliteratur und was man so mit 15 liest. Hermann Hesse! Obwohl, manche lesen das ja noch, wenn sie 30 sind. Jedenfalls habe ich nie aufgehört zu lesen. Manchmal pro Tag ein Buch, wenn ich Zeit hatte; in den Ferien etwa.

Moritz: Ich komme ebenfalls aus keinem Haushalt, wo im Wohnzimmer die Bücherwände standen. Mein Vater war Einkaufsleiter einer Baufirma, er hat nicht viele Romane gelesen. Ich bin über die Schule zum Lesen gekommen, besuchte dann auch die berühmte Stadtbücherei, und irgendwann war es selbstverständlich. Meine Mutter hat das manchmal fast mit Sorge betrachtet, dass der Junge das Lesen nicht mit dem Leben verwechselt. Lesen war jedenfalls immer mein Liebstes, und heute muss ich von Berufs wegen viel lesen. Was aber bis heute geblieben ist, ist die Hoffnung, schlage ich ein neues Buch auf: Jetzt kommt etwas Großartiges! Etwas, was ich noch nie gelesen habe! Wenn dieses Gefühl, diese Neugier mal nicht mehr da ist, dann ist etwas nicht intakt. Wenn das Lesen zur Mühe wird…

H&K: Sie halten ein Buch in der Hand, Sie fangen an zu lesen, wie viele Chancen geben Sie einem Buch?

Müller: Wenn mich ein Buch nicht nach den ersten 20, 30 Seiten wirklich packt und ich finde auch noch den Stil irgendwie blöd, dann lege ich es weg. Dann gibt es wiederum Bücher, da merk ich, das ist ganz gut, da muss ich länger dran bleiben, dann mache ich das auch. Solche Bücher sind aber mittlerweile sehr selten. Ich richte mich heute sehr nach Empfehlungen, etwa im Radio. Nur wenn da Leute unglaublich abgehoben über Bücher sprechen, dann habe ich meist keine Lust mehr. Wenn ich aber merke, da lobt jemand ein Buch direkt und aus vollem Herzen, dann notiere ich mir das und kaufe es dann auch.

Moritz: Ich lese gern zu Ende, auch wenn ich leide! Nun muss ich viele Bücher berufsmäßig lesen, aber das Zu-Ende-Bringen und Durchhalten entspricht meinem schwäbischen Naturell. Ein Buch hat also bei mir eine relativ lange Chance.

Hinz&Kunzt: Viele Menschen klagen, ihnen fehle die Zeit zum Lesen. Haben Sie Tipps?

Müller: Fernseher wegschmeißen! Das habe ich vor sechs Jahren gemacht. Ich gehe abends um acht ins Bett, dann lese ich ein paar Stunden. Und dann ist gut.

Moritz: Da kommt was bei rüber! Aber den Fernseher sollte man auf keinen Fall wegwerfen, schon wegen der Fußballspiele. Jeder muss seine Prioritäten setzen, und wenn einer lesen will, dann schafft er das mühelos und findet sehr wohl eine Lücke in seinem Tagesablauf. Und sei es eine halbe Stunde.

Interview: Frank Keil
Foto: Frank Taubenheim