Am Budapester Bahnhof warten tausende Flüchtlinge auf die Weiterreise. Unser Autor Frank Keil ist vor Ort und berichtet über seine Begegnungen mit Helfern und der jüdischen Gemeinde.
Donnerstag. Wieder liegt ein intensiver Tag vor mir, aber so soll es ja auch sein, deswegen bin ich ja hier. Ich will am Vormittag Rabbi Zóltan Radnóti von der Bét Sálom Synagoge treffen, denn ich habe aufgeschnappt, dass der Dachverband der ungarischen Juden „Mazsihisz“ seine Mitglieder vor zwei Tagen zu Spenden für die Flüchtlinge aufgerufen hat und er soll dafür zuständig sein. Doch heute Nacht – während ich ruhig schlief, obwohl draußen wieder wilde Party war – hat er mir noch eine Email geschrieben und unser Treffen um eine Stunde nach hinten verschoben („Ich schlafe nachts so vier Stunden, lege mich aber Nachmittags für eine Stunde hin, anders ist mein Arbeitspensum nicht zu schaffen“, wird er mir später erzählen). Also habe ich etwas Zeit und gehe noch mal zum Bahnhof, gehe zu Flüchtlingen.
Komme dort an, schaue nach unten auf die Unterführung, wo wie immer Gruppen von Flüchtlingen campieren und die Helfer Lebensmittel und Kleidung austeilen und darüber informieren, wie die Reise nun weitergeht. Gehe entsprechend gleich zum Bahnhof, trete durch das prächtige Portal – und werde wieder einmal überrascht. Es sind nicht zwei- oder dreihundert Leute, die jetzt hier stehen wie normalerweise. Es sind mindestens … ich vermag es nicht mehr zu schätzen: Sind es tausend? Sind es mehr? Es müssten mehr sein.
Die Polizei hat mittlerweile Bänder gespannt, hinter denen die Flüchtlinge stehen, versucht so die lange Schlange irgendwie zu dirigieren. Und die Helfer haben jetzt Megaphone, klettern immer wieder auf einzelne, halbhohe Säulen und versuchen von dort aus für Ordnung zu sorgen: ‚Jeder komme weg, es dauere nur ein wenig‘. Und von unten aus der Unterführung kommen immer mal wieder kleine Gruppen dazu. Familien, Großfamilien, dazu junge Männer, auch mal drei, vier junge Frauen zusammen – niemand scheint mehr allein unterwegs zu sein. Und das ist ja gut.
Beim Helferzentrum geschäftiges Treiben wie immer. Ich spreche András Keri an, Budapester, er hat sieben Jahre in Wien studiert und gearbeitet, spricht deswegen ein perfektes Deutsch. Und nein, er könne nicht sagen, ob heute etwas besonders los sei. Es seien über Nacht einfach sehr viele Leute gekommen. Laut der Statistik, die sie zu führen versuchen, wären es gestern rund 3000 Menschen gewesen, die Budapest mit dem Zug verlassen haben. Heute werden es mehr? „Heute werden es mehr; sieht so aus.“
„Das Problem ist, dass die Bahn keine Sonderzüge einsetzt. Sie hängt maximal mal zwei Waggons dran. Aber sonst sind es die normalen Nahverkehrszüge zur Grenze – und so müssen die Leute eben stundenlang warten, bis sie einsteigen dürfen“, sagt er. Man könnte das auch anders handhaben.
Wir werden kurz unterbrochen. Zwei junge muslimische Frauen, sehr adrett gekleidet, mit extravakanten, bunten Kopftüchern, sprechen ihn an: Wo es hier Toiletten gibt? Oben stünden Dixi-Toiletten – erklärt er ihnen. „Aber die sind sehr schmutzig.“ Die Frauen schauen ihn entsetzt an. „Moment“, sagt er, zückt sein Handy, wählt eine Nummer, spricht erst ganz normal und bellt dann plötzlich irgendwas hinein. Er legt auf, sagt zu den beiden: „In 40 Minuten werden sie gesäubert, hilft das?“
„Das Problem ist, dass die Stadt, dass der Staat absolut nichts macht. Gar nichts. Als gäbe es diese Menschen hier nicht“, sagt er. Und auch das Rote Kreuz, die Malteser, der ungarische Zivilschutz (sowas ähnliches wie bei uns das Technische Hilfswerk) – niemand lasse sich blicken. Er zeigt auf seine Mithelfer: „Hinter uns steckt keine Organisation oder sowas – wir sind einfach nur eine Facebookgruppe.“
Okay – die Spendenbereitschaft der Ungarn sei mittlerweile groß. Auch viele Firmen würden spenden. Wobei es ihnen nicht recht sei, wenn das bekannt werde. „Auch die großen Firmen haben Angst vor der Regierung“, sagt András. Gestern hat er 1000 Decken von Ikea in Budapest bekommen. „Das ist nicht wenig.“ Aber sie hätten ziemlich rumgedruckst: Er müsse das nicht verschweigen, aber er müsse es ja auch nicht unbedingt an die große Glocke hängen.
Ich gehe wieder. Oben ist die Stadtreinigung mit einem großen Tankwagen vorgefahren und pumpt die Toiletten ab. András‘ Anruf hat offenbar geholfen.
20 Minuten später sitze ich im „Cafe Tel Aviv“, in meiner kleinen, schnuckeligen Straße im jüdischen Viertel. An einer Wand hängt ein riesiges Foto vom Tel Aviver Strand. Menschen baden, Palmen säumen die Promenade, das Meer ist sehr blau. Aus den Lautsprechern erklingen schmachtende Schlager auf Hebräisch. Zóltan Radnóti kommt telefonierend, setzt sich, führt das Gespräch zu Ende. „Sorry“, sagt er. Er ist vor zwei Tagen zum neuen Sprecher der ungarischen Rabbiner gewählt worden. Seitdem klingele sein (neues) Handy aller fünf Minuten.
Und noch ein „Sorry“ – wegens seines mageren Englisch. Es wird nicht schlechter sein als meins. „Also, die …“, er stockt. Er sucht nach einem Wort. Er schnippt mit den Fingern. Er holt sein Handy hervor, öffnet eine App für ein Englischwörterbuch, er tippt Buchstaben ein, wird nicht fündig. Er schaut mich fragend an: „Wie sagt man zu diesen Leuten, die jetzt alle kommen, aus Syrien, aus Afghanistan?“ – „Refugees? Flüchtlinge?“, versuche ich es. „Refugees!“, ruft er erleichtert aus. „Es ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich dieses Wort benutze. Ich muss es mir unbedingt merken.“ Und wir beide lachen herzhaft.
Und dann erzählt er: Ja, sie sammeln Spenden. „Essen, Kleidung, Decken und Zelten. Aber auch Zahnbürsten, Shampooflaschen, Tampons, Taschentücher – alles was man so braucht.“ Wobei es nicht einfach gewesen sei, diese Aktion zu starten: „Es gibt auch bei uns in der Community viele Vorbehalte gegenüber den Flüchtlingen. Und wieder andere hatten schlicht Angst, sich mit der Regierung anzulegen, denn die mag es ja gar nicht, dass man diesen Menschen hilft.“ Doch am Ende hätten sie beschlossen, ihren Weg zu gehen, sich notfalls gegen die Regierung zu stellen und eben zu helfen. Das Gespendete ginge unmittelbar an die Grenze nach Röszke. Dort, wo die Zustände für die Menschen so unhaltbar seien und zivile Helfer vor Ort seien.
Natürlich hat er das Argument gehört, unter den Flüchtlingen, die jetzt Ungarn durchqueren wollen, könnten Terroristen sein. „’Denk an Paris! Denk an Toulouse!‘ Ja – aber deswegen kann man doch nicht Menschen, die in Not seien, einfach jede Hilfe verweigern.“ Er holt wieder sein Handy hervor, wechselt ins Internet und zeigt mir wortlos ein paar Fotos: Menschen gehen mit ihrem Gepäck in der Hand auf Bahnschienen entlang. Ein Polizist hält gerade noch einen an der Leine zerrenden Schäferhund davor zurück, Menschen anzufallen. Flüchtlinge hocken hinter einem doppelten gesicherten Zaun auf der nackten Erde.
„Als Jude habe ich natürlich die Bilder des Holocaust in meinem Kopf. Und auch wenn mir mein Verstand sagt, dass man das nicht vergleichen kann, dass das etwas anderes ist, ich muss bei diesen Bildern einfach an das denken, was unser Volk während des Holocaust erlitten hat“, sagt er. Er klickt die Bilder wieder weg. „Wir Juden sind in unserer ganzen Geschichte immer wieder auf der Flucht gewesen. Immer wieder. Und nun kommen zu uns Menschen, die auf der Flucht sind. Wie können wir da nicht helfen?“
Wie wird es weitergehen? In den nächsten Tagen, Wochen, Monaten? Wie alle, die ich in den letzten Tagen das gefragt habe, sackt er kurz zusammen, schüttelt er ratlos den Kopf: „Ich weiß es nicht; wirklich nicht. Ich habe keine Idee.“ Er richtet sich wieder auf: „Wir Ungarn kennen das nicht: fremde Menschen. Wir kennen das nicht, dass Menschen an unserer Grenze stehen und zu uns herein wollen. Wir müssen das erst lernen, damit umzugehen, und ich hoffe, dass wir das lernen.“
„Unsere jüdische Community ist im Grundsatz sehr liberal. Und ich möchte auch diese liberale Haltung bewahren“, sagt er noch. Und er hofft, das es innerhalb der jüdischen Community in Ungarn trotz aller Meinungsunterschiede über den Umgang mit den Flüchtlingen nicht zu einer … kommt.“ Noch einmal sucht er ein Wort, tippt auf seinem Handy, findet das Wort, diesmal auf Deutsch – und sagt dann freudestrahlend: „dass es nicht zu einer Streiterei kommt.“
Text und Fotos: Frank Keil