Kategorien interessieren ihn nicht: Der kalifornische Pianist Yul Anderson mischt bei seinem Konzert in der Laeiszhalle im September Blues, Klassik und Soul
(aus Hinz&Kunzt 199/September 2009)
Er ist Pianist, und er singt. Kategorien wie Klassik oder Soul interessieren ihn nicht. Yul Anderson macht sein eigenes Ding. Und er hat eine Mission: Er will mit seiner Musik Menschen helfen. Am 19. September kommt der Kalifornier in die Laeiszhalle. Birgit Müller traf ihn im Radisson Blu Hotel.
Ein Bär von einem Mann betritt die Lobby. Dass er Pianist ist und demnächst in der ehrwürdigen Laeiszhalle auftritt, sieht man ihm nicht unbedingt an. Bunte Batik-
jacke und ein Barett auf dem Kopf – er könnte auch gut ein Weggefährte des Reggae-Musikers Bob Marley sein. Dieser scheinbare Widerspruch passt zu seiner Musik. Er verarbeitet alles: Stücke von Jimi Hendrix und von Johann Sebastian Bach, von Bob Dylan und von Claude Debussy. Und er ist nicht nur Musiker, sondern auch ein Philosoph, ein Poet und ein Weltverbesserer – ein Mann mit Mission.
Deshalb ist das mit den Fragen auch eher schwierig. Der Mann redet. Ich will mich nicht beklagen – ist ja alles interessant: „Die Erde ist mein Kissen, der Himmel meine Decke“, sagt er beispielsweise. Und dass Musik die größte Heilerin ist. „Ich mache keine Schlafmusik“, sagt er, „sondern ich möchte, dass die Menschen beim Hören meiner Musik wirklich zur Ruhe kommen. Nur wenn man wirklich Ruhe hat, kann man über sich nachdenken und in seinem Leben etwas verändern.“
Er findet, jede Begegnung sollte für einen selbst und für den anderen die Möglichkeit einer Veränderung beinhalten, dass sich doch niemand schämen müsse, weil er obdachlos sei: „Ich kenne viele Menschen, die wirklich obdachlos sind, obwohl sie in großen Häusern leben und sich mit tollen Sachen umgeben.“ Und schlimmer als jeder Alkoholsüchtige seien doch die Konsum- und Geldsüchtigen, die Waffen- und Gewaltsüchtigen.
Er liebt die Straße, die Menschen, die von einem Ort zum anderen gehen, die Obdachlosen. Er ist ein Musiker für alle, die auf dem Weg sind. Und er spielt nicht nur in Konzertsälen, sondern genauso gern auf der Straße. „Schließlich hat nicht jeder Geld für eine Eintrittskarte.“ Apropos: Eine Karte in der Laeiszhalle kostet 45,20 Euro. Deswegen schenkte er uns gleich 50 Eintrittskarten: Die sollen wir an Leser verteilen, an sozial Engagierte, an Obdachlose und die Hamburger Tafel.
Ob er selbst schon mal eine Krise gehabt habe, frage ich und bin stolz, dass ich durchdringe. Aber er sieht mich so begeistert an, dass ich im ersten Moment glaube, er habe meine Frage nicht richtig verstanden. „Ich liebe Krisen!“, sagt er, ohne sich allerdings genauer dazu zu äußern. „Jede Krise hat mir einen Neuanfang gebracht. Krisen sind sozusagen die Jahreszeiten meines Leben.“
Von seiner Website weiß ich schon, dass er mit acht Gitarre spielen lernte und sich mit 14 selbst das Klavierspielen beibrachte. Wie alt er ist, verrät er nicht. Ich schätze ihn um die 50, seine Sprecherin weiß es nicht genau, sagt aber „Anfang 40“.
Sein Vater war Musiker, erzählt er, und seine Mutter Sozialarbeiterin, die viel mit Obdachlosen zu tun hatte und viel mit Familien, die immer kurz davor standen, dass ihnen ihre Kinder weggenommen wurden.
Er selbst war viel auf der Straße und hat alles aufgesogen, jegliche Art von Musik. Was er über Veränderungen bei anderen sagt, sagt er auch über seine Musik. „Wenn ich einen Song oder ein Stück höre, dann höre ich es ganz individuell, ich höre es anders als du oder als sonst wer, das ist normal.“
John Malkovich gefiel seine Musik so sehr, dass er Yul Anderson persönlich anrief, um ihn zu bitten, seine Klavierversion von „All along the watchtower” als Soundtrack in seinem Filmdebut „The dancer upstairs“ verwenden zu dürfen.
Genau: „All along the watchtower“ von Bob Dylan. Er lacht laut: „Bob Dylan? Tja, Bob, jetzt ist es nicht mehr dein Song, jetzt ist es meiner!“ Ist natürlich ein Spaß. Bach und andere Klassiker hat er sich regelrecht einverleibt. Und im Grunde kam er ihretwegen auch nach Europa. „Mich hat jemand spielen hören und meinte, das höre sich so europäisch an, ob ich schon mal da gewesen wäre?“ War er nicht, und so kam er – und blieb in Dänemark hängen.
„Wegen der großen Liebe“, spekuliere ich? Yul Anderson lacht: „Nein“, sagt er und wird trotz aller Poesie auf einmal ganz irdisch: „Ich bin mit meiner Musik ein Fischer der Herzen – und Dänemark ist mein Fischgrund. Wenn es nichts mehr zu fischen gibt, ziehe ich weiter.“