Dem Wald geht es schlecht. Was wäre, wenn zur Abwechslung die Natur selbst mal wieder übernehmen würde? Auf Expedition im Alten Land.
Der Weg zum Wilden Wald führt entlang gepflegter Häuser, mit Rosen an roten Backsteinwänden und weißen Spitzengardinen in den Fenstern. Sieben Kilometer hinter Buxtehude steigt man über ein Weidetor, langhaarige Rinder drehen halbwegs interessiert den Kopf zur Seite. Schnell noch einmal über einen Zaun und man steht drin. In, nun gut, einem Wald. Hohe Bäume, moosiger Boden, überall Farn. Viel mehr ist noch nicht zu sehen.
Doch ist es nun ein Wurmfarn oder ein gewöhnlicher Dornfarn? Das ist eine der Fragen, die sich Laura Jürgens stellt. Jürgens ist Botanikerin der Loki-Schmidt-Stiftung, und sie ist heute hier, um diesen Wald bei Estebrügge zu zeigen (was gar nicht so einfach ist, aber dazu gleich mehr). Und auch, um diese zwölf Hektar grüne Fläche, die die Stiftung im Juni aufgekauft hat, gründlich zu kartieren. Hierfür betrachtet sie eine Pflanze vor sich, nimmt eines ihrer beiden Botanikbücher zur Hand, blättert darin, schlägt nach: Wie zackig sind die Blätter, wie krumm der Stängel? Solche Sachen. Und dann weiß sie, dass vor ihr ein Wald-Frauenfarn steht, zum Beispiel. Den Dornfarn und den Wurmfarn wird sie später übrigens auch noch finden, im Wilden Wald.
Tritt der moderne Mensch hier ein, darf er ruhig bemerken, dass er in diesem Wald eigentlich ein dämlicher Tölpel ist. Er weiß nichts über diesen Lebensraum, er hat nichts darin gepflanzt, nichts bewegt, nichts an ihm verändert: 60 Jahre lang war dieser Wald einfach nur da. Wobei, auch das ist natürlich falsch, denn er wächst ja vor sich hin, es tobt ein ständiger Wettkampf unterschiedlicher Pflanzen: Welche schafft es bis ans Licht? Und nun kann man sich das tölpelhaft (oder professionell wie Botanikerin Jürgens) ansehen: Was ist hier entstanden? Wie lebt der Wald, wenn sich der Mensch einfach mal raushält?
Das ist sowieso eine interessante Frage, weil es dem Wald, ganz generell, schlecht geht. Was vermutlich die eigentliche Tölpelei ist, weil der Mensch erstaunlich viel weiß über Bäume: Dass sie aus CO2 Sauerstoff machen, da geht es ja schon los. Dass Bäume Trinkwasser mehren und die Luft kühlen, auch nicht ganz unwichtig, vor allem in Zeiten des Klimawandels. Im Waldbericht 2021 der Bundesregierung steht: Noch nie waren so viele Bäume abgestorben wie heute, durch Hitze, Stürme, Schädlingsbefall. Eine Fläche, etwas größer als das Saarland, müsste wieder aufgeforstet werden. Vier von fünf Bäumen haben lichte Kronen.
Und damit zurück in die Anarchie des wilden Waldes. Oder besser, an den Eingang des Waldes, denn der Weg hinein ins dunkle Dickicht beginnt erst jetzt. Für die „Expedition in den Wilden Wald“ gab es vorab eine detaillierte Kleidungsempfehlung der Loki-Schmidt-Stiftung: „lange Hose und Gummistiefel“, so der Rat. Doch sich daran nicht zu halten, eröffnet ganz eigene Vorteile. Man spürt es dann richtig, das Krabbeln an den Beinen, die daumengroßen Mücken und vor allem die stacheligen Brombeeren. Die, findet Jürgens, seien sowieso ganz toll: An ihnen erkennt man einen fruchtbaren Boden. Der findet sich überall im Alten Land, deshalb stehen ringsherum ja lauter Obstplantagen, Bäume in Reih und Glied, gepflanzt im Abstand von einem Meter.
Also, welche Bäume hat sich der autonome Wald selbst ausgesucht? Recht unterschiedliche, Pappeln, Erlen, Weiden, Birken und Eichen. Laura Jürgens entdeckt auch Eschen, über die freue sie sich ganz besonders, immerhin sterben sie in Deutschland seit Jahren massenhaft an einem Pilzbefall. Sowieso, der Wald wird von ganz unterschiedlichen Dingen attackiert, von solchen eingeschleppten Pilzen, von Borkenkäfern, Stürmen, ganz besonders in den vergangenen Jahren aber durch Trockenheit. Die übrigens wiederum die Bäume schwächt und anfälliger macht für Pilze und Schädlinge.
Wie man den Wald am besten schützt, ist gar nicht so einfach zu beantworten. Klar, nicht abholzen ist gut, ihm mehr Raum zur freien Entwicklung geben: auch gut. Doch es wird auch gestritten unter den Botaniker:innen, unter den Expert:innen der Wald- und Klimaforschung. Weil manche einen Wald anfassen wollen, um ihn zu schützen, und andere ihn liegenlassen wollen, um ihn, genau: zu schützen. „Ich glaube, man braucht beides“, sagt Laura Jürgens diplomatisch, das hänge auch vom Standort und den Eigenschaften des Waldes ab. Der Erhalt der Wildnis ist jedenfalls Teil der „Nationalen Strategie für biologische Vielfalt“. Bis 2020 sollten sich eigentlich fünf Prozent der Wälder im Land natürlich entwickeln können. Rund drei Prozent waren es bis Ende des Jahres.
Wie muss der Wald also aussehen? Im Grunde ist man sich da einig: In einem Wald, der Schädlingen und Klimaveränderungen am besten standhält, wachsen möglichst verschiedene heimische Baumarten. Möchte man einen möglichst klimaresilienten Wald, sagt beispielsweise Marcus Lindner vom „European Forest Institute“ aus Bonn, müsse man solche Mischbestände anlegen und fördern. Wichtig wäre übrigens, generell unter zwei Grad Klimaerwärmung zu bleiben, sonst werde auch „die Klimaschutzwirkung des Waldes deutlich geringer“.
Sowieso erhofft man sich so einiges vom Wald der Zukunft: Er soll möglichst viel Kohlendioxid aus der Luft ziehen, Wasser speichern, allerlei Tieren ausreichend Schutz bieten. Holz möchte man auch noch, um ab und zu damit zu bauen. Und dann muss er noch der Trockenheit standhalten, die häufiger und intensiver wird. In Deutschland gingen zwischen 2018 und 2020 rund drei Prozent der Waldfläche durch Dürre verloren, das wären 33.333 wilde Estebrügger-Wälder nebeneinander.
Hier im Wilden Wald war einst eine Ziegelei, bis 1962 wurde noch Ton abgebaut. Den Boden durchziehen zwei Gräben, die sich einmal über die gesamte Länge des Waldes ziehen, mittlerweile wachsen verschiedene Pflanzen darin. Der Blick nach oben: dichte Baumkronen, durch die jetzt romantisch-idyllisch sanftes Sonnenlicht fällt. Unten, im Dunkeln, liegen lauter abgestorbene Bäume, sogenanntes Totholz, schwarz, verkümmert. Wundervoll! Findet jedenfalls Botanikerin Jürgens: Bitte nicht umschmeißen, wenn das Totholz mal aufrecht steht. Das sei ein besonders gemütlicher Ort für Insekten.
Und so entwickelt sich ein Wald, wenn der Mensch ihn einfach liegen lässt. Neue Kreisläufe entstehen, also: Leben, könnte man sagen.
So war das übrigens auch mit einem kleineren, aber ungleich bekannteren Wald der Loki-Schmidt-Stiftung: Dem „Urwald am Brahmsee“. Die Stiftungs-Namensgeberin, Naturschützerin und Ehefrau des ehemaligen Bundeskanzlers Helmut Schmidt, entdeckte einst am Brahmsee in Schleswig-Holstein einen Acker, der nicht mehr bewirtschaftet wurde. Loki Schmidt kaufte dieses Stück Land und beobachtete in den Jahren danach, wie sich aus Rasen und ein bisschen Gebüsch nach und nach ein Wald entwickelte. Das war vor 50 Jahren.
Vielleicht, soll Loki Schmidt einmal gesagt haben, sei in ihr einfach dieses „typische Großstadthinterhofkind, das uneingestandene Sehnsucht nach Grün und Pflanzen gehabt hat“. Und danach, dass es „endlich wieder anfängt zu wachsen draußen.“ Die gute Nachricht ist: Es wächst da draußen, wenn man es nur lässt.