Durch Zufall zum Ballett, jetzt Erster Solist: Carsten Jung tanzt in der Hamburger Compagnie von John Neumeier
(aus Hinz&Kunzt 148/Juni 2005)
„Tanzen ist kein Job für mich, sondern eine Erfüllung. Etwas auszudrücken, was ich in mir finde, ist mir noch viel wichtiger, als eine Technik in Perfektion vorzuführen“, sagt der 30-Jährige. Jung, der seit 1994 zum Ensemble gehört und 1998 zum Solisten avancierte, ist eine Ausnahme: Unter den 56 Tänzern der Hamburger Compagnie ist er der einzige Deutsche. „Für einen Jungen hierzulande ist der Tänzerberuf offensichtlich kein Wunschziel“, sagt er. „Fußballer oder Tennis-Profi zu werden ist bestimmt verlockender. Viel Geld verdient man als Tänzer auch nicht.“
Spätestens mit 40 ist übrigens alles vorbei, dann ist die Karriere in diesem Beruf, der ja nicht nur Kunst, sondern auch Hochleistungssport ist, zu Ende. Carsten Jung ficht das nicht an. Er will tanzen – und er pfeift aufs Geld. Die Zukunft, die nach dem Tanzen kommt, macht ihm keine allzu großen Sorgen. „Ich sehe meinen Weg zum Beispiel in Richtung Coaching“, sagt er, „da könnte ich meinen jungen Kollegen ordentlich auf die Sprünge helfen. Die fragen mich schon jetzt um Rat.“
Dass der aus bescheidenen Verhältnissen stammende junge Mann aus dem thüringischen Gotha einmal ein leuchtender Stern am Ballett-Him-mel werden sollte, ist ihm wahrhaftig nicht in die Wiege gelegt worden. Auch war er als Dreikäsehoch keineswegs ein tanzendes Wunderkind. Alles, was er heute kann, ist das Resultat von Knochenarbeit, harter Disziplin und Liebe zum Beruf. Es klingt wie ein Märchen, wenn Carsten Jung seine nahezu unglaubliche Story erzählt. Ein Scherz seiner sechs Jahre älteren Schwester hat seine Karriere buchstäblich ins Rollen gebracht. Er war neuneinhalb, als sie in einer Schülerzeitung die Anzeige einer Ballettschule fand, die männlichen Tänzernachwuchs suchte. Aus lauter Übermut stellte sie den Coupon auf den Namen des kleinen Bruders aus und schickte ihn ab. Und der wusste von nichts. Kurze Zeit später lud die Palucca-Schule in Dresden den Jungen zur Aufnahmeprüfung ein. Er bestand sie und wurde sofort aufgenommen. Seine damaligen Freunde fanden das eher befremdlich. Seine Eltern waren ein bisschen traurig, weil der Internats-Schüler ja nun das Haus verlassen musste.
Inzwischen ist Carsten Jung selbst Vater geworden. Drei Monate ist Angelina alt. Mit seiner Lebensgefährtin Elizabeth Loscavio, bis vor kurzem ebenfalls Erste Solistin im Hamburg-Ballett, lebt er in Wandsbek gleich hinterm Quarree – und nicht weit weg vom Ballett-Zentrum. Im Juli wollen die beiden heiraten.
Befragt nach seinen bislang wichtigsten Arbeiten nennt Carsten Jung zuerst „Peer Gynt“, wo er die Titelpartie tanzt. Die technisch enorm anspruchsvolle Rolle mit ihrer immensen Anzahl von komplizierten Schritten und Sprüngen ist eine der schwierigsten im Neumeier-Repertoire. „Wirklich hammerhart“, bestätigt der Tänzer. Doch der Peer sitzt ihm wie eine zweite Haut. Und er tanzt diesen Part des modernen Jedermann, als gelte es sein Leben. In dieser universellen Geschichte eines Mannes, der sich einzig dünkt und doch nur ein Rädchen im großen Weltgetriebe ist, dessen Leben aus lauter Schalen ohne Kern besteht, ist der Tänzer zunächst jung, frech und provozierend. Er wird zum überheblich-selbstverliebten Star und Emporkömmling, der alles erreicht, aber Schaden an seiner Seele nimmt. Dieser Akt fällt Jung am schwersten, denn Starallüren sind nun mal seine Sache nicht. Am Ende ist er dann wieder in seinem Element: als gebrochener, geschundener alter Mann, der alle Höhen und Tiefen des Lebens durchmessen hat und ganz unerwartet doch noch Erlösung findet.
Nicht weniger ergreifend ist dieser ausdrucksstarke, sympathisch-uneitle Tänzer als Lancelot in der „Artus-Saga“, die Neumeier 1982 nach dem berühmten Epos des Mittelalters schuf. In Carsten Jungs Interpretation dieses Ritters der Tafelrunde wird wiederum deutlich, was ihn als Tänzer so besonders macht: Er ist auf der Bühne in jeder Rolle immer ein Herr, nobel und von zärtlicher Männlichkeit, galant, ohne sich anzubiedern, und so ehrlich in seinen Gefühlen, dass es manchmal fast zum Weinen schön ist. Lancelot – das ist zunächst ein richtiger Strahlemann, der seine Königin Ginevra, die Frau seines Dienstherrn Artus, ebenso leidenschaftlich wie entsagungsvoll liebt. Er muss deshalb den Hof des Artus verlassen und wird darüber fast wahnsinnig. Ein Elender, der im Staub liegt, heruntergekommen, in Lumpen gehüllt.
Nicht nur in tragischen Rollen brilliert Carsten Jung. Heiter, verspielt und sehr witzig ist er als ungestümer Liebhaber in „La fille mal gardée“ oder als kapriziöser Lysander, Geliebter der Hermia, im „Sommernachtstraum.“
Doch nirgendwo verdichtet sich seine eigene Existenz stärker zum Symbol als in der „Winterreise“, in der ihn John Neumeier zu Schuberts Musik auf einen langen kalten Weg schickt. „Ich bin da ein Außenseiter, der von zu Hause weggeht“, erzählt er, „vielleicht, weil er es nicht mehr aushielt, vielleicht, um sich den Wind um die Nase wehen zu lassen. Es ist eine Reise ins Ungewisse. Aber sie wird diesen Menschen, der sich aufgemacht hat, verändern.“ Und wieder spürt man es: Da spricht jemand von sich – und von seinem Leben, das ein Tänzerleben ist und das er erfüllen will, wie immer es endet. Und wie in ein zweites Ich wird er hineinschlüpfen in jede neue Rolle. „Ich identifiziere mich immer total mit meiner Figur, ich kann gar nicht anders“, sagt er. „Wenn ich als Lancelot oder als Peer Gynt rausgehe auf die Bühne, dann bin ich Lancelot, dann bin ich Peer Gynt!“