Mit dem Ende des Winternotprogramms gehen rund 1000 Menschen aus den Notunterkünften zurück auf die Straße.
Meteorologisch wird es in Hamburg wohl einer der bisher schönsten Tage des Jahres werden. Auch an der Spaldingstraße strahlt die Sonne schon am frühen Morgen. Doch auf die vielen Männer und wenigen Frauen, die das Gebäude mit der Hausnummer 1 verlassen, scheint sie wie zum Hohn. Kein Zuhause, aber zumindest ein Ort, zu dem sie gehen konnten, war das trutzige Bürohaus ihnen. Damit ist jetzt Schluss.
Das Winternotprogramm für Obdachlose schließt. Bis zu 941 Personen hat die Stadt über Nacht untergebracht, nicht wenigen den ganzen Winter über.
„Das ist nur Überleben“
Zum Beispiel Milan. Der 60-Jährige hat seit dem 1. November jede Nacht in der Spaldingstraße verbracht. Im Mehrbettzimmer mit Fremden. Mit Menschen, die stark alkoholisiert waren, aggressiv und nicht gut rochen, erzählt er. „Das ist kein Leben, das ist nur Überleben“, sagt Milan.
Jeden Abend zwei Stunden anstehen, in Eis, Schnee, Regen, Hagel und bei Minusgraden. Wie sich das anfühlt, mag der ein oder andere heute im Sonnenschein vergessen haben. Milan nicht. „Ruhe und Hygiene“, sagt er „das ist das Wichtigste“. Auf beides habe er die letzten Monate verzichten müssen. Er wirkt erschöpft. Er ist wütend. „Man muss das ganz anders bauen“, sagt er über die Unterkunft Spaldingstraße, in der bis zu 264 Menschen geschlafen haben. Aber so etwas wie dankbar ist er auch – und er zeigt Verständnis, dass sie Stadt eine Riesenaufgabe zu bewältigen hatte: „Das ist bestimmt schwer.“
Allein, seine Aufgabe ist es nicht, hunderten Obdachlosen Privatsphäre zu verschaffen – oder für die Belüftung des Gebäudes zu sorgen. Das erzählt Milan mehrmals, wie unerträglich es in den Zimmern dann gewesen sei, wenn die Lüftung ausgeschaltet war. Aus Sicherheitsgründen konnten die Fenster nicht geöffnet werden. Und dann, sagt Milan, hat er es manchmal fast nicht ausgehalten.
Keine guten Aussichten: Mit seinen 60 Jahren traut Milan sich nicht mehr zu, auf der Straße zu schlafen. Ihm bleibt mit seinem Bündel, drei kleinen Plastiktüten – „Das ist alles, was ich habe“ – nichts als der Weg ins Pik As, die Notschlafstelle in der Neustadt.
„Es war die Hölle“
Dort herrscht seit Monaten Ausnahmezustand. Trauriger Rekord: Bis zu 397 Menschen haben diesen Winter im Pik As, das regulär für maximal 190 Menschen gedacht ist, übernachtet.
Einer von ihnen: Peter. Seit zwei Jahren ist er obdachlos. Den Winter hat er im Pik As verbracht. „Das war die Hölle“, sagt er, „Licht an, Licht aus, rein, raus, laut, lauter.“ Stress pur für ihn und seine mehr als 300 Mitbewohner. Vor anderthalb Wochen geriet Peter mit zwei anderen Obdachlosen aneinander, der Streit gipfelte in einer Prügelei. Peter musste das Pik As verlassen.
„Ich kenne mich so gar nicht“, sagt er und schüttelt den Kopf. Ein Betreuer riet ihm, in die Spaldingstraße zu ziehen, und half ihm, eine neue Unterkunft zu finden. Keine Wohnung, sondern öffentliche Unterbringung, im Zweibettzimmer, draußen . Immerhin: Peter muss nicht auf die Straße.
Amara schon. Er stammt aus Mali und hat laut Behörde keinen Anspruch auf dauerhafte öffentliche Unterbringung. Auf die Frage, wie es für ihn weitergeht, schüttelt er den Kopf, zuckt mit den Schultern und deutet auf die Straße. Dann zieht er seine Koffer über den Bürgersteig davon. Wohin er soll, weiß er nicht. Genauso wenig wie die beiden jungen Männer aus Ungarn. 25 und 29 Jahre sind sie alt. Vor ein paar Tagen seien sie in Hamburg angekommen. Dass sie in der Spaldingstraße ein Bett finden würden, haben sie in einer Beratungsstelle erfahren. Dass das nur bis heute galt, haben sie offenbar nicht verstanden. Ein anderer Mann ist darüber geradezu verzweifelt. „Zu!“, sagt er nur. „Schluss!“ Mehr bringt er nicht heraus. Tränen laufen ihm übers Gesicht.
Unter den Menschen, die das große Haus in der Spaldingstraße verlassen, fällt Konstantin auf. Sein Rücken scheint ein bisschen weniger gebeugt, sein Gesichtsausdruck ein bisschen weniger trüb. Vielleicht weil er einen Plan hat. „Noch heute kaufe ich mir einen Schlafsack“, sagt Konstantin. Das Geld dafür will er sich beim Hinz&Kunzt-Verkauf verdienen. Seinen Verkäuferausweis hat er griffbereit. „Und dann gehe ich wieder auf die Straße.“ Konstantin lächelt. Er gibt sich Mühe, aber froh sieht das nicht aus.
Text: Beatrice Blank
Fotos: Evgeny Makarov