Die Erklärung der Menschenrechte jährt sich zum 70. Mal. Das Ehepaar Lohmeyer aus Jamel spürt jeden Tag, wie es ist, wenn diese Rechte bedroht werden.
Das Grundstück, auf dem das Haus von Ehepaar Birgit und Horst Lohmeyer steht, ist 7.500 Quadratmeter groß. Es ist die ehemalige Försterei des Ortes. Roter Backstein, Fachwerk. Drum herum leicht buckelige Wiesen, gesäumt von alten Obstbäumen: Äpfel, Birnen, Quitten, Mirabellen und dann noch Pflaumen. Ruhig ist es hier. Schön und sehr still, man will sofort tief ein- und tief ausatmen. Idylle pur – wären da nicht die Nachbarn.
40 Menschen wohnen im Dorf Jamel, Gemeinde Gägelow, im Nordwesten Mecklenburgs. Die nächste Stadt ist Wismar, zur Ostsee sind es nur 15 Kilometer. Über einem der elf Häuser weht eine zerschlissene schwarz-weiß-rote Flagge, die Flagge des Deutschen Reichs, auch von 1933 bis 1945. An einer Hauswand finden sich die Worte „Dorfgemeinschaft Jamel, frei – sozial – national“. Ein hölzerner Wegweiser in der Dorfmitte zeigt in südöstliche Richtung: 855 Kilometer seien es von Jamel bis nach Braunau am Inn, ist da zu lesen. Dem Geburtsort Adolf Hitlers.
Jamel ist ein Nazi-Dorf. Und mittendrin die Lohmeyers. Die einen harten Stand haben, werden sie im Dorf doch ständig beschimpft und verbal bedroht. Dort, wo wir eben noch standen, bei unserem Rundgang über das weitläufige Gelände, war mal ihre Scheune. Ein solider Bau, 24 Meter lang, 11 Meter breit, größer als das Haupthaus, in dem sie wohnen. In der Nacht vom 12. August 2015 brannte er lichterloh bis auf die Grundmauern nieder. Die polizeilichen Ermittlungen ergaben: Brandstiftung. Der oder die Täter konnten bis heute nicht ermittelt werden. Nun steht am Ende der Fläche eine Pyramide aus den verkohlten Balken, die einst das Scheunendach und das Fachwerk der Wände trugen. „Unsere ‚Pyromide‘“, sagt Horst Lohmeyer. Ausgedacht von einem Schweizer Künstler, der danach zu Besuch war.
Alles beginnt, als die Lohmeyers 2004 von Hamburg-St. Pauli raus aufs Land ziehen wollen und in Jamel fündig werden; Birgit Lohmeyer arbeitet als Autorin und Kursleiterin, ihr Mann als Musiker. „Wir hatten uns in dieses Haus, in dieses Gelände verliebt“, erzählt sie. „Es war genau das, was wir uns auf der Suche nach einer Immobilie vorgestellt hatten: ein großes Gelände direkt am Waldrand, ein Sackgassendorf, also kein Durchgangsverkehr, eine ruhige Lage hoch drei, dabei nicht so weit von Hamburg entfernt, sodass wir unseren Berufen nachgehen können.“ Sie schaut aus dem Fenster: „Es war alles perfekt – bis auf diesen einen Nachbarn.“
Denn dass im Dorf ein bekennender Neonazi wohnt, entgeht ihnen nicht. Ein regional bekannter NPD-Funktionär mit Kontakten in die rechtsradikale Kameradschaftsszene. Verurteilt wegen schwerer Körperverletzung und später wegen Waffenbesitz. „Wir haben damals überlegt, ob wir uns das zutrauen“, so Birgit Lohmeyer. Und sie trauen es sich zu: „Wir hatten auch auf St. Pauli zuweilen eine raue Nachbarschaft“, sagt ihr Mann.
„Zwei Familien wurden vertrieben. Durch Sabotage und Bedrohung.“– Horst Lohmeyer
Was sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen können: Nach und nach wird dieser Nazi, der ein Abbruchunternehmen aufbaut, Häuser in Jamel aufkaufen. Gleichgesinnte Rechtsextreme ziehen ein, die anderen Familien ziehen weg. „Zwei Familien wurden hier ganz vehement vertrieben: durch Sabotage und Bedrohung“, erzählt Horst Lohmeyer.
Die neuen Nachbarn laden zu sogenannten Sonnenwendfeiern und Lichterfesten ein – bis zu 300 Neonazis versammeln sich dann ums Lagerfeuer, für die Kinder ist eine Hüpfburg aufgebaut.
Aber es sind nicht nur die martialischen Neonazis, die ihnen zusetzen; die, die etwa aus ihrer Sympathie für das Dritte Reich keinen Hehl machen. Es sind auch die, die schweigen, die sich raushalten und für die die beiden einfach nur Störer sind: „Die werfen uns vor, wir würden die Region beschmutzen“, so Birgit Lohmeyer. „Die sagen: Dann sollen die doch wegziehen, wenn es ihnen hier nicht gefällt! Lass die doch da in Jamel vor sich hinhitlern, das stört doch niemanden, wenn nicht die Lohmeyers immer wieder darüber reden würden.“
„Die sagen: ‚Lass die doch vor sich hinhitlern.“– Birgit Lohmeyer
Natürlich hat das Ehepaar Freunde und Unterstützer. Sie haben Leute, die auf ihr Haus aufpassen, wenn sie mal länger unterwegs sind, zu Vorträgen über Toleranz, Demokratie und ihr Engagement gegen Rechts, zu denen sie bundesweit eingeladen werden. Gerade erst waren sie in Mölln bei der dortigen Fachschule für Erzieher und Erzieherinnen zu Gast. Und ohne – aus guten Gründen – ins Detail zu gehen, erzählen sie, dass die örtliche Polizei sich um sie kümmert. „Es fährt schon öfter mal eine Streife durch das Dorf und schaut nach dem Rechten“, sagt Horst Lohmeyer.
Trotzdem: Im Fall des Falles brauche die Polizei von Wismar aus, wo die nächste Wache ist, zehn bis 15 Minuten. „Wenn wir vorher noch zum Telefonieren kommen“, meint Horst Lohmeyer. Und er gesteht, dass er sich mittlerweile vorsichtig verhält – trotz aller Entschlossenheit, sich nicht einschüchtern zu lassen: „Ich habe vor ein paar Jahren noch in drei, vier Bands gespielt, mit denen wir hier die Dörfer bespielt haben, auf Dorffesten auftraten, beim Karneval, den es hier ja gibt – das geht alles nicht mehr.“ Zu groß sei die Gefahr, dass er vor Ort attackiert wird. Oder dass jemand ins Handy spricht: „Die Lohmeyers sind hier auf der Party, deren Haus scheint leer zu stehen…“
Und dennoch werden sie nicht weichen. Werden hier nicht wegziehen. Werden demnächst auf ihrer Terrasse in der Sonne sitzen, von wo aus man das Dorf nicht sieht, nur umgeben von einem hüfthohen Holzzaun.
Apropos Zaun: Der wurde ihnen vor ein paar Tagen zusammengetreten. Von wem? Sie können es nicht beweisen, aber man kann es sich denken. Wanderer mit Stock und Hut dürften es kaum gewesen sein. Aber auch das wird sie nicht dazu bewegen, nun ihrerseits aufzurüsten. Das war nie ihr Ding. „Wir hatten eine Zeitlang einen Bauwagen mit seinem Bewohner auf unserem Gelände stehen, und irgendwann sagte der zu mir: ‚Du musst Stacheldraht ziehen!‘, und ich: ‚Was soll ich?‘“, erzählt Horst Lohmeyer.
Sendezeit von Joko und Klaas
Birgit Lohmeyer ergänzt: „Wir haben kein Gartentor, es läuft kein Kampfhund übers Gelände, und diese Irritation ist viel besser, als wenn wir hier meterhohe Zäune hochziehen würden.“ Und Horst Lohmeyer fragt: „Wie hoch sollten denn auch die Zäune sein?“ Seine Frau legt ihm wie zur Beruhigung die Hand auf die Schulter: „Es ist nicht verkehrt, Angst zu haben, aber zu viel Angst macht auch krank.“ Und nach einer Pause sagt sie: „Man muss sehen, dass man sein eigenes Leben behält. Sie setzt hinzu: „Wenigstens teilweise.“
Was sie schützt und was sie stützt, das ist ihr Festival „Rock den Förster“, das sie seit 2007 veranstalten; das strikt nicht kommerziell ist und mit dem sie keinen Gewinn machen. Und auf dem im Jahr des Brandanschlags die Toten Hosen gespielt haben und im vergangenen Jahr Herbert Grönemeyer. „Wir zehren monatelang von diesem Festival, auch wenn es viel Arbeit ist, die wir ja ehrenamtlich leisten“, sagt Birgit Lohmeyer.
Und so wird es auch in diesem Jahr wieder stattfinden, die Karten waren dafür innerhalb von zwei Stunden verkauft. „Nur bei dem Festival in Wacken geht es noch schneller“, witzelt Birgit Lohmeyer. Und sie bittet: „Schreibe nicht ,Anti-Rechts-Festival‘.“ Es heiße im Untertitel „Festival für Demokratie und Toleranz“. Denn eines ist ihnen wichtig: „Wer gegen etwas ist, muss erst mal für etwas sein.“
Überhaupt setzen sie immer wieder auf Kultur, vertrauen darauf, dass man mithilfe von Musik, Kunst oder Literatur Menschen erreicht, die vor harten politischen Diskussionen vielleicht zurückschrecken und die man so nicht gewinnen kann. Dafür haben sie in der Vergangenheit viele Preise bekommen.
„Wir müssen in der Demokratie solche Leute aushalten.“– Horst Lohmeyer
Und noch etwas ist frisch auf den Weg gebracht: Birgit Lohmeyer ist in die SPD eingetreten. „Im Mai haben wir hier Kommunalwahlen, und ich kandidiere sowohl für die Gemeindevertretung als auch für den Kreistag“, sagt sie. Sollte sie gewählt werden, kann sie sich noch mal anders für ihre Ideale und Ziele einsetzen: Die gemeindeeigene Wiese in der Dorfmitte etwa, wo die Polizei bisher ihre Fahrzeuge abstellen konnte, wenn zu besonderen Ereignissen ihre Präsenz erforderlich ist, wurde im vergangenen Jahr an einen der Jameler Neonazis verpachtet. Eigentlich sollte in diesem Jahr über diesen Entscheid neu abgestimmt werden – aber genau das ist still und heimlich nicht passiert. „Wir haben ja bisher nur außerparlamentarisch agiert“, erklärt ihr Mann.
Das würde sich dann ändern. Es würde auch ein weiteres Zeichen setzen, nämlich dass es möglich ist, sich auch massivem Druck entgegenzustellen. Horst Lohmeyer sagt: „Wir müssen in der Demokratie solche Leute aushalten, aber man muss ihnen nicht entgegenkommen und ihnen irgendwelche Grundstücke verpachten.“