Viele Straßenmagazine haben wegen der Pandemie den Vertrieb eingestellt, andere machen weiter. Auch Hinz&Kunzt. Leicht hat sich diese Entscheidung kein Projekt gemacht, denn es geht um viel.
Cathrina Neubert streckt jedem, der in den Trinkraum des Straßenmagazins „Hempels“ in Kiel will, ein Thermometer entgegen: erst mal messen, wie heiß die Stirn ist. Hinein darf nur, wer keine Coronasymptome hat. Statt zwanzig Menschen dürfen bloß noch acht hinein. Die übrigen Beratungsgespräche erledigt die Sozialarbeiterin im zugigen Hinterhof. „Wir versuchen, draußen das Wichtigste zu regeln“, sagt Neubert. Maskiert und mit Abstand.
Auch das Monatsmagazin bekommen die rund 150 Verkäufer*innen nun an der Hintertür überreicht. Im Frühjahrs-Shutdown hatte Hempels den Verkauf ganz eingestellt, genau wie viele andere Straßenmagazine, auch Hinz&Kunzt. Jetzt, im Dezember und Januar, wird in Kiel und Hamburg trotz der seit dem 16. Dezember geltenden Corona-Einschränkungen weiter verkauft. Ausgefeilte Hygienekonzepte sollen dies ermöglichen.
Die Entscheidung für oder gegen den Verkauf hat sich kein Magazin leicht gemacht. Viel steht auf dem Spiel. Was, wenn sich ein Verkäufer ansteckt beim Überreichen der Zeitschrift an eine womöglich infizierte Kundin? Oder wenn eine Verkäuferin auf dem Weg zu ihrem Stammplatz, in der U-Bahn, im Bus, ansteckende Aerosole einatmet? Darf man das wirklich riskieren? Obdachlose Menschen gehören per se zur Risikogruppe, weil sie oft vorerkrankt sind, ihr Immunsystem geschwächt ist, sie sowieso schon Nässe und Kälte aushalten müssen.
Unsere Priorität: Selbstbestimmung der Verkäufer*innen
Dass Hinz&Kunzt den Verkauf trotzdem fortgesetzt hat, geht maßgeblich auf Harald Ansen zurück, Professor für Soziale Arbeit an der HAW und Mitglied im Beirat des Hamburger Magazins. Der Armutsforscher trifft eine moralisch-ethische Abwägung: Die Selbstbestimmung der Hinz&Künztler*innen rangiert danach zuvorderst. Sie seien mündige Persönlichkeiten, die in die Entscheidungen, die sie betreffen, zwingend miteinbezogen werden müssten. „Solidarisch sein heißt, nicht über sie zu bestimmen“, schreibt Ansen in einem Grundsatzpapier zur heiklen Frage.
Statt den Verkauf zu ihrem Schutz durch eine Entscheidung von oben zu stoppen, müssten zunächst alle Wege ausgeschöpft werden, den Vertrieb möglichst sicher zu gestalten. Jedem, der in der Pandemie lieber zu Hause bleibt, steht dies natürlich frei.
„Ganz viel, was ihnen Tagesstruktur und Halt gibt, fällt weg.“– Cathrina Neubert
Die meisten Betroffenen sind darüber froh. Es ist nämlich nicht nur das Virus, das ihr Wohl gefährdet. Die Erfahrungen aus dem Frühjahr zeigen, dass ein Verkaufsstopp den Straßenvertrieblern nicht nur finanziell zusetzt, sondern auch psychisch. „Ganz viel, was ihnen Tagesstruktur und Halt gibt, fällt weg“, sagt Sozialarbeiterin Neubert. Im Herbst seien bei Hempels drei Personen in die Psychiatrie eingewiesen worden, eine Folge des angesammelten Stresses, glauben sie an der Förde.
Hinz&Künztlerin Claudia in Bergedorf kennt die neue Einsamkeit auf den Straßen. „Ich hätte nicht gedacht, dass mir der Kontakt zu den Leuten so fehlt.“ Aus Angst vor Ansteckung hat sich die 58-Jährige möglichst infektionssicher eingerichtet und eine Kasse mit Schlitzen aufgestellt, in die die Kundschaft das Geld stecken kann. Weil viele ihr die Münzen trotzdem lieber in die Hand drücken, hat die Frau mit der FFP2-Maske Desinfektionsmittel dabei. „Meine Kunden sind froh, dass ich mir etwas einfallen lassen habe.“ Zu Claudias Ausstattung gehört auch eine Box von Hinz&Kunzt zur kontaktlosen Entnahme des Magazins. Die nötigen Abstände können also eingehalten werden – nur gelegentlich muss Claudia sich die 1,50 Meter erkämpfen. Sie grinst: „Manche ältere Leute würden mir am liebsten auf dem Schoß sitzen.“
Hannover verteilt Einkaufsgutscheine statt Zeitungen
Zwei Drittel der deutschsprachigen Straßenmagazine verkaufen in der Pandemie weiter. Leipzig, Regensburg, Osnabrück, Braunschweig und Hannover entschieden sich dagegen: Im Januar ging dort keine einzige Zeitung über den Bordstein – aus Schutz für die Verkäufer*innen und die eigenen Angestellten. Georg Rinke, Geschäftsführer des „Asphalt“ in Hannover, fiel die Entscheidung nicht leicht. „Wir sind aber nun mal alle aufgerufen, Kontakte zu reduzieren“, sagt er. Statt Zeitungen bekommen die Asphalt-Verkäufer*innen im Lockdown jede Woche Einkaufsgutscheine in Höhe von 25 Euro. Inzwischen hat auch Asphalt den Verkauf wieder gestartet.
So oder so trifft die Krise die Projekte finanziell hart. In Kiel waren es 2020 rund 20 Prozent weniger Absatz als im Vorjahr, bei Hinz&Kunzt sank der Erlös aus dem Magazinverkauf allein im sonst so verkaufsstarken Dezember um fast ein Viertel im Vergleich zu 2019. Manche machen jetzt einen großen Bogen um die Verkäufer*innen – und in Restaurants geht gar nichts mehr. Spenden müssen die Verluste daher ausgleichen.
Die Pandemie als Innovationsschub
Das ist die gute Nachricht: Bislang hat die Pandemie kein Projekt in Existenznot gebracht – weltweit. Die Bereitschaft in der Bevölkerung, die Straßenmagazine zu unterstützen, sei überall groß, berichtet Zoe Greenfield vom International Network of Street Papers. Viele Zeitungen hätten Wege gefunden, einen infektionssicheren Verkauf trotz Lockdown zu ermöglichen. Außerdem wurden neue Vertriebsmodelle entwickelt: In Großbritannien und Australien etwa werden Straßenzeitungen neuerdings in Supermärkten verkauft, andere bieten Abonnements an oder vertreiben ihre Magazine digital. „Es geht auch darum, die Marken in der Öffentlichkeit sichtbar zu halten“, sagt Greenfield.
Ein weiterer Corona-Innovationsschub: Viele Straßenmagazine haben kontaktlose Bezahlmöglichkeiten eingeführt – per Kreditkarte oder Apps. Wenn die Pandemie rasch genug vorbei ist, könnten manche Projekte hinterher sogar besser dastehen als zuvor.