Von Almosen leben zu müssen, ist harte Realität für viele Rumän:innen in Hamburg. Manche finden als Hinz&Kunzt-Verkäufer:innen den Weg zurück in ein würdevolleres Leben.
„Geh arbeiten!“ Zwei Wörter, die wohl alle verstehen, die in Hamburg vom Kleingeld der Passant:innen leben. Auch Lacramioara Lupu kennt sie, obwohl sie kaum Deutsch spricht – und obwohl sie nie bettelte. Jahrelang spielte sie Akkordeon am Dammtor oder unter der Brücke an der Sternschanze, lächelte und war dankbar für jede Münze, die ihren Kindern in Rumänien den Lebensunterhalt sicherte. Die 51-Jährige klagt nicht. Aber das Naserümpfen der Leute sah sie auch. Während ihr Sohn Ramonel ihre Geschichte erzählt, macht sie die
arroganten Gesichter der Menschen nach, die damals an ihr vorübergingen. „Zeitung verkaufen viel besser“, sagt sie. Jeden Tag steht Lacramioara mit dem Straßenmagazin vor dem Einkaufszentrum am Kiebitzweg in Schenefeld. Jetzt wird sie im Vorbeigehen gegrüßt, die Menschen kennen sie. Viele bleiben stehen und kaufen ihr ein Magazin ab. „Zehn, fünfzehn Familien“ zählt Lacramioara zu ihren Stammkund:innen, die jeden Monat ein Heft kaufen. Waren die im Urlaub, fragen sie ihre Hinz&Künztlerin nach der Ausgabe, die sie verpasst haben. Es kam tatsächlich so, wie Lacramioaras Töchter, selbst Hinz&Künztlerinnen, gesagt hatten: Ihr Leben ist leichter geworden.
Ein Schwein, eine Kuh, etwas Mais zum Polentakochen: Das war die Lebensgrundlage der Familie Lupu damals in Bcioiu, einem Dorf nahe der rumänischen Stadt Bacu. „Wir haben das Schwein gefüttert, damit wir im Dezember Fleisch essen konnten“, erzählt Ramonel. Der 21-Jährige ist der einzige Sohn, vier Mädchen kamen vor ihm. Als seine Eltern den ersten Schicksalsschlag erlitten, war er noch nicht geboren: Die jüngste Tochter starb mit vier Jahren schwer verletzt nach einem Wohnungsbrand. Danach war sein Vater oft betrunken, erzählt Ramonel. Ilie Lupu sei ein guter Saxofonist gewesen, mit seiner Band habe er auf Hochzeiten gespielt. Aber die Familie versorgen konnte er damit nicht – nicht in Rumänien. Als Straßenmusiker in Deutschland verdiente er besser. Als Rumänien EU-Staat wurde, reiste seine Frau mit ihm: drei Monate Hamburg, drei Monate Bcioiu. Die Kinder blieben zu Hause, die älteste Schwester passte auf. „Wir gingen noch zur Schule“, sagt Ramonel. „Das ging, weil unsere Eltern für uns gesorgt haben. So hatten wir Geld, Essen und Kleidung.“
Die Eltern hatten weniger. Zu Beginn einer Saison in Hamburg schliefen sie unter Brücken oder in Parks, bis sie Menschen trafen, bei denen sie unterkommen konnten. Lacramioara erzählt von einem serbischen Paar, bei dem sie häufiger zur Miete wohnten. Sie und ihr Mann teilten sich dann ein Zimmer mit einer anderen Familie. Manchmal riefen sie von einem Münztelefon aus die Kinder an. „Tuttuttuttutt“, macht Lacramioara und lacht: So schnell hätten sie immer gesprochen, um die kostbare Zeit nicht zu verschwenden.
Dann der zweite Schicksalsschlag: Ilie erkrankte an Hepatitis C. Der Befund kam zu spät für eine Heilung. Schwer krank blieb er mit den beiden jüngsten Kindern in Rumänien, die älteren Töchter wohnten bereits mit ihren Ehemännern in Hamburg. So hatte Lacramioara zumindest eine Bleibe in Aussicht, als sie allein mit ihrem Akkordeon aufbrach, um den Lebensunterhalt für die Daheimgebliebenen zu verdienen. Doch das Spielen fiel ihr immer schwerer. Kurz nachdem ihr Mann starb, bekam auch sie die Diagnose: Hepatitis C und ein Tumor in der Leber. Lacramioara breitet die Arme aus, schiebt sie zusammen, als hätte sie ihr Instrument auf dem Schoß, und verzieht das Gesicht. Solche Schmerzen.
Sie wurde in Rumänien operiert, dort war sie krankenversichert. Ramonel erinnert sich: „Das war eine schwere Zeit.“ Er war damals zwölf. Seine Mutter nahm rapide ab, das machte ihm Angst. Aber Lacramioara überstand die Krankheit – und reiste wieder ab mit ihrem Akkordeon. „Sie musste“, sagt Ramonel. Ohne das Kleingeld aus Hamburg wären sie mittellos gewesen.
Auch Ileana kam notgedrungen nach Hamburg. Sie stammt aus Suceava, einer Stadt im Nordosten Rumäniens. Ihre braunen Haare trägt sie zum Zopf gebunden, das Gesicht mit dem warmen Lächeln wirkt fast jugendlich. Dabei ist Ileana 75 Jahre alt. Ein leichtes Leben hatte sie nie.
Sie arbeitete in der Landwirtschaft, half bei der Mais- oder der Kartoffelernte, bis sie die schwere Arbeit nicht mehr schaffte. Eine soziale Absicherung hatte sie nicht. Also verließ auch sie ihre Heimat und kam schließlich nach Hamburg. Das war vor sieben Jahren, so lange schon lebt Ileana auf der Straße. Anfang November kamen sie und ihr Lebensgefährte im Winternotprogramm unter. „Ich bin zufrieden“, sagt sie.
Musik zu machen war nie ein Hobby: „Als wir das erste Mal die Hand auf unser Instrument legten, war unser Gedanke: Geld verdienen“
Denn auch für Ileana hat sich etwas Wesentliches verbessert: Seit sie ihren Hinz&Kunzt-Ausweis hat, muss sie nicht mehr betteln. Die ersten drei Jahre in Hamburg überlebte sie nur dank Almosen. Laut Sozialarbeiterin Irina Mortoiu, die bei Hinz&Kunzt Ansprechpartnerin für rumänische Verkäufer:innen ist und das Gespräch übersetzt, tun sich viele ihrer Landsleute schwer damit, über ihre Gefühle zu sprechen. „Sie sind es nicht gewohnt, schämen sich und glauben, auf Nachfrage eine positive Antwort geben zu müssen“, sagt sie. Trotzdem erzählt Ileana, dass ihr das Betteln schwergefallen sei. Einsam und traurig sei sie gewesen. Aber schließlich habe sie sich daran gewöhnt und versucht, nach vorn zu schauen.
Wenn Ileana von ihren Kund:innen erzählt, die an ihrem Stammplatz bei Edeka im Komponistenviertel in Barmbek-Süd vorbeischauen, ändert sich ihre Körpersprache. Sie sitzt aufrecht und lacht beim Sprechen so, dass ihre Goldkronen blitzen. Den Hinz&Kunzt-Ausweis zu tragen sei eine Ehre für sie, und die Anerkennung ihrer Kund:innen tue ihr gut. Nun müsse sie nicht mehr ständig „bitte, bitte, bitte“ sagen – um das zu verstehen, braucht es keine Übersetzung. Mehr Würde habe sie jetzt. Und auch ein bisschen mehr Geld.
Ileana ist das Betteln schwergefallen – bis sie sich daran gewöhnt hat
„Wir haben nie gebettelt“, sagt Ramonel Lupu. Stolz ist er darauf nicht, eher erleichtert. „Es wäre uns peinlich. Aber wenn du keine andere Wahl hast …“ Zum Glück hatten alle in seiner Familie ein Instrument, er das Saxofon wie sein Vater, seine Schwestern das Akkordeon wie die Mutter. Die Eltern brachten ihnen das Spielen bei. Es war nie ein Hobby, erklärt Ramonel, der 15 Jahre alt war, als er und seine Mutter endgültig nach Hamburg zogen. Es war eine aus der Not geborene Geschäftsidee. „Das war unser Gedanke, als wir das erste Mal die Hand auf unser Instrument legten: Geld verdienen.“
Bei ihm klappte es nicht. Für die Straße reiche sein Talent zwar so gerade aus, sagt Ramonel. Aber er sei zu schüchtern gewesen. Ein Straßenmusiker müsse die Leute unterhalten können, fröhlich wirken. „Meine Mutter hat gemerkt, dass ich dafür nicht geeignet bin.“ Dass er das sechs Jahre später so selbstbewusst erzählen kann, verdankt er Lacramioaras Zähigkeit. Sie wollte eine bessere Zukunft für ihren Sohn.
„Ana-Maria und Cristina“, sagt sie. Ohne die beiden hätten sie es nicht geschafft. Ana-Maria Ilisiu war damals Sozialarbeiterin bei Hinz&Kunzt, Cristina Stanculescu dolmetschte für die rumänischen Verkäufer:innen. Sie fanden eine Schule, an der Ramonel Deutsch lernen und seinen Hauptschulabschluss machen konnte, nahmen Post für Mutter und Sohn an und verhalfen ihnen zur ersten eigenen Wohnung in Hamburg. „Ab da ging es uns besser“, sagt Ramonel.
Heute arbeitet er in seinem Traumberuf: Er lernt Friseur in einem Salon in Eppendorf. Sein erstes Praktikum machte er dort, dann bewarb er sich um eine Lehrstelle – mitten in der Pandemie. Zuerst wollte der Chef keinen Lehrling, die Zeiten waren unsicher, der Laden klein. Doch Ramonel meldete sich immer und immer wieder, bis das ganze Salonteam sich bereit erklärte, ihn zu unterstützen. Im Dezember endet seine Probezeit. „Ich glaube schon, dass sie zufrieden sind mit mir“, sagt er.
Lacramioara lacht stolz. Auch sie hat es geschafft. Neben dem Verkauf des Straßenmagazins arbeitet sie nun als Reinigungskraft in einem Tennisclub. Eine Teilzeitstelle, sozial versichert. Sie lebt nun in einem kleinen Haus in Krupunder, zur Miete, gemeinsam mit Ramonel, ihrer ältesten Tochter, deren Mann und drei Enkelkindern. Ihr Akkordeon braucht sie nicht mehr.