„Stephanslust“: Warum der Sammler und Künstler Stephan Watrin inmitten seiner Ausstellung lebt
(aus Hinz&Kunzt 127/September 2003)
„Der Teppich muss frei bleiben“, sagt Stephan Watrin, „sonst wird mir das zu viel!“ Der Teppich ist blau, knapp zwei Quadratmeter groß und bildet vermutlich die größte zusammenhängende Freifläche in der mehr als 100 Quadratmeter großen Wohnung. Ansonsten ist alles voll: Von der Flurdecke baumeln Spazierstöcke, die Wände sind kaum mehr zu erkennen vor lauter Aschenbechern, Schuhlöffeln, Tiergeweihen, Blechschildern, Kaffeekannen, alten Prospekten oder Kaffeefilter-Packungen – immer schön in Gruppen geordnet.
Zwischen diesen Sammlerstücken, die weder vor der Küche noch vor dem Klo Halt machen, schlängeln sich Lichterketten, die von Gläsern, Flaschen und Spiegelscherben reflektiert werden. Das Strandgut des banalen Alltags beginnt geheimnisvoll zu leuchten und bekommt einen unerklärlichen Zauber. Sammlers Traum und Albtraum, durch den der 53-jährige Stephan Watrin zu gleiten scheint, ohne sich je an etwas zu stoßen. Ein bisschen erinnert er an einen freundlichen schwerelosen Kobold.
„Ich bin ja verrückt“, sagt er verbindlich lächelnd, so wie andere vielleicht sagen würden, sie seien leider nicht zum Aufräumen gekommen – in jenem weichen niederrheinischen Tonfall, den auch 30 Jahre Hamburg nicht vollständig aushärten können.
Wie bei allen Sammlern begann es auch bei ihm ganz harmlos: mit einer Kindernähmaschine, eigentlich gedacht als Geschenk für eine junge Liebe, die damals Modedesign studierte. „Aber dann gefiel mir die Maschine so gut, dass ich sie selbst behalten habe.“ Das ist jetzt mehr als 20 Jahre her, es folgten weitere Kindernähmaschinen, Sammeltassen, Avis-Annoncen und jedes Wochenende mindestens ein Flohmarkt. Eine große Leidenschaft, ein großer Fluch.
„Meine Frau hat es irgendwann vor zwölf Jahren nicht mehr ausgehalten und ist ausgezogen. Kann man ja auch verstehen“, sagt Stephan Watrin und sieht jetzt aus wie ein bekümmerter Kobold. Denn anders als vielleicht andere Sammler ist er keiner, dem der Rest der Welt egal wäre. Er mag Frauen und andere Menschen, interessiert sich für ihre Bedürfnisse und versteht sogar seine Vermieterin, „die sich Sorgen macht, weil in der Wohnung wegen meiner Sammelei seit 23 Jahren nicht gestrichen werden kann“.
Seine soziale Ader hatte Stephan Watrin Anfang der achziger Jahre auch bewogen, seine gut dotierte Abteilungsleiter-Stelle im Kaufhaus aufzugeben und als Erzieher im Kindergarten zu arbeiten. Das tat er bis vor drei Jahren, dann kündigte er, weil er sich nicht so gut mit seinen neuen Vorgesetzten verstand und „weil ich mehr Zeit für meine Kunst haben wollte“.
Denn damals hatte er sich nicht mehr länger damit begnügt, die Dinge aufzuheben und zu ordnen, sondern begonnen, sie zu gestalten. Mit feinem Kupferdraht umwickelt er seitdem seine Fundstücke und verbindet sie zu Skulpturen, die immer ein ernsthaftes Anliegen haben: den Irakkrieg, den Nahostkonflikt, aber auch den Kampf zwischen den Geschlechtern. „Wenn mich da etwas bewegt, egal ob ich es selbst erlebe oder in der Zeitung lese, dann setze ich mich direkt hin und mache eine Skulptur. Das ist meine Art, es zu verarbeiten“, sagt der Drahtkünstler und sieht dabei nicht mehr wie ein Kobold aus, sondern wie ein zerbrechlicher Elf.
Wie eine zweite Schicht beginnen sich diese nachdenklichen Skulpturen nun vor die Sammelstücke zu schieben, so dass er seine Wohnung vor drei Jahren kurzerhand zur Museumswohnung erklärt hat. Weil aber „viele Leute doch Hemmungen haben, einfach so eine Privatwohnung zu betreten“, und weil sowieso nicht genügend Platz wäre, ist er froh, dass er die Räume des Galeristen Olaf Woerderhoff am Schulterblatt 59-1 nutzen kann – und jetzt eröffnet er im Karoviertel „Senator Watrin“, ein Galerie-Café mit Kinderbetreuung.
„Da soll dat dann endlich alles zusammenkommen, die Kunst, der Kommerz und dat Soziale“, sagt er, und es klingt wie die einfachste Sache der Welt. Ist es für ihn auch. Denn wenn ein Problem nicht so groß ist, dass man es nur noch mit Draht umwickeln kann, dann packt Stephan Watrin es einfach an und löst es mit niederrheinischem Pragmatismus.
So wie neulich, als ihm eine Galerie-Besucherin im Rollstuhl erzählte, dass sie bis zum Pferdemarkt fahren müsse, um eine geöffnete Behindertentoilette zu finden. Seitdem hat Stephan Watrin für ein Behindertenklo auf dem Schulterblatt gekämpft – mit Erfolg, wie er, der selbst ernannte Klominister, genüsslich erzählt. Da ist er wieder ganz Kobold, der den Behörden „so lange auf den Senkel geht, bis die kapieren, dass ich es ernst meine“.
Allerdings weiß er auch genau, an wen er sich wenden muss. Schließlich engagiert er sich seit Jahren in Nachbarschaftsinitiativen und im Sanierungsbeirat des Viertels, „da kennt man sich dann irgendwann.“ Jedenfalls gibt es jetzt im Flora-Park eine provisorische Behindertentoilette, für die einige Gastronomen an der Piazza nicht nur den Schlüssel verwalten, sondern auch zur Finanzierung beigetragen haben – von Stephan Watrin charmant überredet. „Schließlich verlangt die Gastronomie hier den Anwohnern auch einiges ab, also kann sie auch mal was für die Nachbarschaft tun.“
Mit diesem Argument wird jetzt im September auch ein Fest für die Piazza-Lärm-geplagten Anwohner ausgerichtet. Und wenn der Flora-Park im nächsten Jahr ein richtiges, gemauertes Toilettenhäuschen bekommt, dann werden die Jugendgruppen aus der Flora genauso in die Schlüsselverwaltung einbezogen wie die Kneipiers und der Künstler selbst. Wenn er so etwas organisieren kann, „wo sich die unterschiedlichsten Leute zusammensetzen und wat jutes machen“, dann ist Stephan Watrin so glücklich, dass er sogar das Sammeln vergisst – jedenfalls eine Zeit lang.
Gute Chancen also, dass der blaue Teppich weiterhin leer bleibt. Wenn ihm dieser Freiraum nicht mehr reicht, dann fährt er für ein paar Wochen in die Sahara und genießt die Leere der Wüste. Und wer weiß, vielleicht kommt eines Tages doch noch die Märchenprinzessin und erlöst ihn von seiner Sammlung. Denn „wenn ich mich in eine Frau verlieben würde und die wollte hier einziehen und es wäre zu wenig Platz, dann würde ich mich auch von der ganzen Sammlung trennen“. Von wegen verrückt – der Mann ist einfach ein Romantiker!