Seit 1992 öffnet die Stadt jeden Winter Notunterkünfte für Obdachlose. Hinz&Kunzt hat immer berichtet: über Wohnschiffe, Turnhallen und marode Gebäude, Überbelegung, Zwei-Klassen-System und Abschreckungspolitik. Ein Blick ins Archiv.
Da war dieses Loch, mitten in der Wand. Faustgroß, eins davon in jedem Raum. Weil die Fenster sich nicht mehr öffnen ließen, sollten die Zimmer dadurch gelüftet werden, aber von draußen drangen statt frischer Luft vor allem Straßenlärm und beißende Kälte durch das Loch. Man könnte es pragmatisch nennen, wie die Stadt die Notunterkunft für Obdachlose hergerichtet hatte. Aber war das auch würdig? Sehr viel Mühe hatte man sich jedenfalls nicht gegeben: In die Räume mit den vergilbten Wänden hatte man ein paar Bettgestelle und für jeden Bewohner einen Stuhl gestellt. Es gab keine Tische, keine Schränke – und auch keine Privatsphäre: Insgesamt kamen hier 230 Menschen unter, bis zu sechs in einem Zimmer. Hinter den milchigen Fenstern die vielbefahrene Spaldingstraße. So bringt Hamburg also seine Obdachlosen unter? Bei meinem ersten Besuch im Winternotprogramm 2012 war ich erschüttert. Doch meine Kollegen hatten schon Schlimmeres gesehen …
Die Stadt ist in der Pflicht, das Leben von Obdachlosen zu schützen.
Seit ich bei Hinz&Kunzt arbeite, ist der 1. November ein fester Termin: Das Winternotprogramm beginnt! In der kalten Jahreszeit nimmt es stets viel Raum in den Hinz&Kunzt-Ausgaben ein. Aus einem einfachen Grund: Am gefährlichsten ist das Leben auf der Straße im Winter. Den Obdachlosen drohen Erfrierungen und andere lebensgefährliche Erkrankungen. Die Stadt ist in der Pflicht, ihr Leben zu schützen. Sie tut das seit 1992 in unterschiedlichen Großunterkünften und durch die Finanzierung von Wohncontainern, die Kirchengemeinden auf ihren Grundstücken aufstellen. Wir wollen bei Hinz&Kunzt darauf achten, dass die Würde der Schutzbedürftigen dabei gewahrt bleibt.
Frühmorgens fahren wir deshalb zu Beginn des Programms in die Eimsbütteler Bundesstraße in das Zentrum für Wohnungslose der Diakonie, wo die begehrten Containerplätze vergeben werden. Jedes Mal sind schon Dutzende Obdachlose vor uns da, viele bereits seit dem Vorabend, manche warten bereits tagelang trotz Kälte und Regen vor der Tür. Denn für die Obdachlosen geht es um viel: Hier entscheidet sich, wer in den nächsten Monaten eine Tür bekommt, die er hinter sich schließen kann. Einen warmen Raum, den er sich nur mit einem Mitbewohner teilen muss und in dem er auch tagsüber bleiben kann. Die von der Sozialbehörde finanzierten Wohncontainer, die Kirchengemeinden auf ihren Grundstücken aufstellen, sind der Jackpot im Winternotprogramm. Mal gibt es 130 Plätze, mal nur 80. Es kommen so oder so jedes Jahr viel mehr Bewerber in die Bundesstraße, als es Plätze gibt. Jedes Mal ziehen verzweifelte Menschen mit ihrem Hab und Gut davon, die Kälte im Nacken. Ihre Geschichten wollen wir unseren Leserinnen und Lesern erzählen, darum sind wir dort.
Die, die keinen der begehrten Plätze bekommen haben, müssen sich nachmittags vor den Großunterkünften anstellen, die die Sozialbehörde den Winter über vorhält. Unvergessen ist mir der 1. November 2015. In der Münzstraße hatte der Unterkunftsbetreiber fördern&wohnen (f&w) ein Containerdorf mit 450 Plätzen aufgebaut. Circa 100 Obdachlose haben sich zur Eröffnung vor dem Bauzaun versammelt, der das Gelände umgibt. Als die Wachleute die Unterkunft nicht wie angekündigt um 17 Uhr öffnen, werden sie nervös. Manche drängeln und schubsen, andere rütteln am Zaun. Die Stimmung ist aggressiv. Es sind die Ärmsten der Armen, die Angst davor haben, nicht mal nachts ein Dach über dem Kopf zu haben. Zum Glück bekommt am Ende jeder von ihnen einen Platz.
Der Erfrierungsschutz gilt immer nur nachts
Tagsüber müssen die Obdachlosen raus aus den Notunterkünften. Das ist eine der wenigen Konstanten in der Geschichte des Winternotprogramms: Der Erfrierungsschutz gilt nur nachts. Immer wieder erzählen uns Obdachlose, wie schlimm sie das finden. Schon im Jahr 2000 forderte Hinz&Kunzt daher die ganztägige Öffnung – ohne Erfolg. Die verantwortliche Sozialbehörde begründet das unter anderem damit, dass die Obdachlosen tagsüber Beratungsstellen aufsuchen sollen. Aber niemand muss sich jeden Tag beraten lassen, erst recht nicht am Wochenende. Doch auch 100.000 Unterschriften, die wir zusammen mit Hinz&Künztler Jörg vergangenen Winter für eine Onlinepetition sammelten, konnten den Senat nicht umstimmen. „Man wird da behandelt wie Nutzvieh“, kommentiert das der Hinz&Künztler Michael. „Abends kannst du in den Stall, und morgens wirst du wieder auf die Weide geschickt.“ Da schläft Michael lieber gleich draußen.
Trotz des Winternotprogramms übernachten immer auch zahlreiche Obdachlose im Freien. Glaubt man den Behörden, aus freien Stücken: „In Hamburg muss niemand auf der Straße übernachten!“ So oder so ähnlich sagen das alle Sozialsenatorinnen und -senatoren immer wieder. Das zeigt ein Blick in die Archive. Subtext: Wer nicht draußen schlafen muss und es trotzdem tut, der will es so. Stimmt nicht, hält unser Sozialarbeiter Stephan Karrenbauer in Hinz&Kunzt-Ausgabe 214 dagegen: „Die meisten Obdachlosen halten es in den großen Zimmern kaum aus, in denen bis zu acht einander fremde Menschen untergebracht werden.“ Stephan ist empört: Auslöser für seinen Kommentar war der Beinahe-Tod eines Obdachlosen, der in einem Altpapiercontainer Schutz vor der Kälte gesucht hatte und fast der Müllpresse zum Opfer gefallen wäre. Da wirkten die Kommentare der Politiker wie Hohn.
Unterkünfte werden größer, Maßstäbe verschieben sich
Die Größe der Unterkünfte sind immer wieder Thema bei Hinz&Kunzt. „Es wäre schön, wenn wir mehr Räume hätten, die man intimer gestalten könnte“, sagt uns im März 1996 Unterkunftsleiter Dieter Norton. „Damit das Ganze nicht den Charakter einer Massenunterkunft hat.“ Damals übernachten in einem Schlafsaal auf dem Wohnschiff „Bibby Kalmar“, das in Neumühlen vor Anker liegt, bis zu 50 Menschen in der zum Schlafsaal umfunktionierten Kantine. Später kommt ein zweites Schiff hinzu, die „Bibby Challenge“, mit 40 Plätzen im Schlafsaal und immerhin 60 in Zweierkabinen. Es helfe nicht, die Bettenzahl in den Unterkünften immer weiter aufzustocken, beklagt 2002 Sozialarbeiter Karrenbauer: „Wir brauchen kleinere Unterkünfte, um die Menschen von der Straße zu holen.“ Das Winternotprogramm war auf 113 Plätze, zuzüglich 72 in den Kirchencontainern, gewachsen. Mit der Zeit verschieben sich die Maßstäbe weiter: 15 Jahre später sind es 900 Plätze, die in der Münzstraße und im Schaarsteinweg für Obdachlose zur Verfügung stehen. Die Forderung nach kleinteiligen Unterkünften, am liebsten über die Stadt verteilt, scheint 2016 utopisch. Bei Hinz&Kunzt sind wir schon froh, dass die vielen Obdachlosen überhaupt eine Möglichkeit haben, der Kälte zu entkommen.
2010 verliert jedoch der damalige Senator Dietrich Wersich (CDU) die Qualität des Erfrierungsschutzes völlig aus den Augen. Angesichts großer Kälte und komplett überfüllter Notunterkünfte wie die in der Sportallee am Flughafen (2003–2011) öffnet er spontan den Weltkriegsbunker unter dem Hachmannplatz für bis zu 74 Obdachlose. So könne man „die Obdachlosen unserer Stadt auch in diesen sehr kalten Tagen gut versorgen“, wird Wersich in einer Pressemitteilung der Sozialbehörde von damals zitiert. Sie müssten die Schlafplätze aber auch annehmen. Da war er wieder, der kaum versteckte Vorwurf an die Obdachlosen.
Dass es gute Gründe dafür gab, den Bunker zu meiden, fand unser Kollege Hanning Voigts heraus: Er verbrachte eine Nacht im Bunker und schrieb eine Reportage darüber. Mir wird beim Lesen ganz anders: „Niemand, der diesen Bunker kennt, kann ihn für eine Lösung halten“, steht dort. „Mehr als 30 Menschen in einem Raum ohne Fenster, Feldbetten ohne Laken, unzureichende Waschräume und Toiletten ohne Tür – das ist unerträglich.“ Einen Obdachlosen zitiert er in seiner Reportage mit den Worten: „Überleg doch mal, was du an Bakterien einatmest, wenn du hier pennst.“ Um politisch Druck zu machen, gibt Chefredakteurin Birgit Müller den Text zum Abdruck im Hamburger Abendblatt frei. Vier Wochen später schließt der Senat den Bunker wieder, die Obdachlosen werden in ein angehendes Seniorenheim umquartiert.
Wersichs Nachfolger Detlef Scheele (SPD) will dessen Fehler nicht wiederholen, sagt im Herbst 2011 im Interview mit Hinz&Kunzt: „Der Bunker ist unwirtlich und für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unzumutbar, und was für Mitarbeiter unzumutbar ist, ist auch für die Menschen, die da übernachten sollen, unzumutbar.“ Unter seiner Ägide eröffnet die Behörde dann die Unterkunft in dem maroden Gebäude an der Spaldingstraße. Drei Winter lang übernachten bis zu 230 Obdachlose gleichzeitig in den Zimmern mit den faustgroßen Löchern in der Wand. Immerhin gibt es hier erstmals eine Etage eigens für Frauen und Paare. Auch Scheele sagt: „In Hamburg muss niemand auf der Straße schlafen – erst recht nicht im Winter.“
Scheele sagt damals auch, dass das Winternotprogramm allen offenstehen solle. Angesichts von immer mehr Osteuropäern, die in Hamburg auf der Straße landen, ist das plötzlich nicht mehr selbstverständlich. Für Scheele jedoch schon: „Kalt ist kalt, da spielt Nationalität keine Rolle“, sagt er zunächst. Ein Jahr später klingt das schon anders: Die osteuropäischen Obdachlosen würden „in der Regel über skrupellose Schlepper mit falschen Versprechungen nach Hamburg gelockt“, sagt Scheele. Belege dafür bleibt er schuldig. Eine neue Beratungsstelle soll sich um diese Menschen kümmern und sie nach Möglichkeit ins Heimatland schicken.
Scheele führt Zwei-Klassen-System ein
2013 dann der Paradigmenwechsel im Winternotprogramm: Obdachlose werden in welche mit und ohne einen sogenannten Rechtsanspruch auf eine Unterkunft eingeteilt – mit gravierenden Folgen. Hinz&Kunzt spricht von einem „Erfrierungsschutz 2. Klasse“.
Absurd: Die 1. Klasse ist die heruntergekommene Unterkunft in der Spaldingstraße. Die 2. Klasse, in der die aussortierten, meist osteuropäischen Obdachlosen untergebracht werden, sind Klassenzimmer in leer stehenden Schulen und eine Turnhalle, in denen Feld- oder Stockbetten aufgestellt werden. Im ersten Winter finden dort 380 Menschen notdürftig Schutz, im zweiten 560. Offensichtlich will man es ihnen so ungemütlich wie gerade noch vertretbar machen.
Zuletzt gibt es einen richtigen Fortschritt im Winternotprogramm: Unter Sozialsenatorin Melanie Leonhard (SPD) nutzt fördern&wohnen 2016 erstmals ein Gebäude in der Friesenstraße als Notunterkunft für Obdachlose. Und ist damit sehr zufrieden: „Wir haben hier den höchsten Standard im Winternotprogramm seit dessen Beginn Anfang der 1990er-Jahre erreicht“, sagt Martin Leo, f&w-Bereichsleiter bei der Vorstellung des Gebäudes. Auch wir bei Hinz&Kunzt sind angetan, schwärmen vom Aufenthaltsraum, dem Fahrstuhl und den behindertengerechten Sanitäranlagen: „Und insgesamt 400 Betten in hellen Zimmern, die alle abschließbare Schränke haben, in denen die Obdachlosen ihr Hab und Gut aufbewahren können. Angst vor Diebstählen müssen sie nicht mehr haben.“ Auch gibt es mehr Zweibettzimmer als zuvor.
Sportvereine nehmen Obdachlose auf
Doch es gibt eine Kehrseite: Auch in diese Unterkunft dürfen nicht mehr alle Obdachlosen rein. Osteuropäer, die angeblich im Herkunftsland eine Unterkunft haben, aber in Hamburg auf der Straße leben, werden abgewiesen. Mitarbeiter von f&w schicken sie in eine Tagesaufenthaltsstätte, in der sie auf dem Fußboden schlafen müssen – der niedrigste Standard in der Geschichte des Winternotprogramms. Viele schreckt das ab, sie schlafen im Freien.
Im vergangenen Winter springen der Boxverein Hamburg Giants und der FC St. Pauli ein, öffnen ihre Hallen – und retten so womöglich Leben: Die Obdachlosen sind gesundheitlich schwer angeschlagen, ein Arzt stellt bei ihnen Erfrierungen an Händen und Füßen fest. Dennoch gibt es bislang keine Anzeichen, dass sich an der Politik der Sozialbehörde in diesem Winter etwas ändern wird.
Jedes Jahr im März endet das Winternotprogramm – und unsere Schlagzeilen ähneln stets denen aus den Vorjahren. „Für Hunderte Obdachlose heißt es jetzt: Zurück auf die Straße“, schreibt Redakteurin Petra Neumann im Jahr 2003 in Hinz&Kunzt-Ausgabe 123. „Denn selten zuvor schienen die Aussichten auf eine eigene Wohnung so schlecht zu sein, wie in diesem Jahr.“ Das war vor 15 Jahren – heute sind die Aussichten noch viel schlechter.
Zwar gelingt es den Sozialarbeitern im Winternotprogramm inzwischen, zahlreiche Obdachlose in Dauerunterkünfte (2017/18: 283, das war Rekord), einige wenige davon gar in Wohnungen (2017/18: 6) zu vermitteln. Das bedeutet aber auch, dass Hunderte andere leer ausgehen und zurück auf die Straße müssen. Wenn wir am letzten Morgen vor den Unterkünften stehen, oft im kalten Nieselregen, erzählen sie uns jedes Mal ihre Geschichten von Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. Wir werden sie auch 2019 wieder aufschreiben. Sie können Sie in unserer Mai-Ausgabe lesen.