Helena Steinhaus über Bürgergeld

„Armut wurde immer wieder stigmatisiert“

Helena Steinhaus (37) ist Gründerin und Geschäftsführerin von „Sanktionsfrei“. Foto: Oliver Betke

Debatten über den angeblich zu großzügigen Sozialstaat lenken von wichtigeren Fragen ab, meint Helena Steinhaus vom Verein „Sanktionsfrei“ im Interview. Das Bürgergeld hält sie für viel zu gering.

Hinz&Kunzt Randnotizen

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Hinz&Kunzt: Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) hat das Bürgergeld als „größte Sozialstaatsreform seit 20 Jahren“ bezeichnet. Welche Bilanz ziehen Sie nach zwei Jahren?

Helena Steinhaus: Ziel der Reform war, den Menschen mit mehr Respekt und auf Augenhöhe zu begegnen, Weiterbildung in den Vordergrund zu stellen statt Zwang. Nichts davon ist eingetreten. Nur ein schöner Name, aber mindestens dasselbe Stigma.

Immerhin wurde der Regelsatz deutlich erhöht.

Ja. Aber das war ein Inflationsausgleich, keine Erhöhung der Kaufkraft. Jenseits davon hat sich nichts geändert. Die Menschen sollten in klarer und verständlicher Sprache angeschrieben werden. Das ist nicht passiert. Und nach wie vor zahlen viele Bürgergeldbeziehende aus ihrem Regelsatz etwas zur Miete hinzu, weil sie keine Wohnung zu dem Preis finden, den das Jobcenter für „angemessen“ hält.

Alleinstehende bekommen 563 Euro monatlich plus Mietkosten. Warum ist das zu wenig?

Fürs Essen beispielsweise sind 195,35 Euro im Monat vorgesehen, kaum mehr als 6 Euro pro Tag. Der Bürgergeldsatz ist so berechnet, dass an allen Ecken und Enden Geld fehlt. Wer länger davon leben muss, kommt in große finanzielle Schwierigkeiten. Und viele Ausgaben sind gar nicht vorgesehen: für eine Brille etwa, eine Zahnspange, ein Geschenk oder eine Haftpflichtversicherung.

Welche Höhe halten Sie für angemessen?

Der Paritätische Gesamtverband fordert 813 Euro im Monat, dem schließe ich mich an. Plus Stromkosten wohlgemerkt, die aktuell aus dem Regelsatz gezahlt werden müssen.

Hartnäckig halten sich Erzählungen, dass manche Geringverdienende weniger Geld in der Tasche hätten als Bürgergeldempfänger:innen.

Das ist klar eine Lüge. Geringverdienende haben immer Anspruch auf ergänzende Sozialleistungen wie Wohngeld, Kinderzuschlag oder Leistungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket, die sie zum Gehalt dazubekommen. Wir sollten uns fragen: Warum werden manche Menschen so schlecht bezahlt? Und warum setzen sich die, die solche Erzählungen verbreiten, nicht für einen Mindestlohn ein, der vor Armut schützt?

Die Gebäudereiniger-Innung hat behauptet, viele ihrer Mitgliedsbetriebe würden Mitarbeitende verlieren, weil die lieber Bürgergeld beziehen als arbeiten.

Es gibt Studien, nach denen die Zahl der Menschen, die aus dem Job in den Bürgergeldbezug wechselten, zuletzt gesunken ist. Wenn so etwas bei Reinigungsfirmen passiert, haben die vielleicht ein Problem als Arbeitgeber. Abgesehen davon kann man nicht einfach seinen Job aufgeben und sagen: „Ich hab keine Lust mehr, ich mach jetzt Bürgergeld.“ Das wird vom Jobcenter als sozialwidriges Verhalten sanktioniert.

„Die meisten Menschen wollen etwas beitragen.“

Überall werden händeringend Fachkräfte gesucht. Gleichzeitig gibt es fast 5,5 Millionen Menschen, die im Bürgergeld leben. Wie passt das zusammen?

Tatsächlich erwerbsfähig sind nur 1,7 Millionen davon, weil die anderen krank sind, Angehörige pflegen oder Kinder und Jugendliche sind. Und von den 1,7 Millionen ist auch nur ein Teil vollständig erwerbsfähig. Viele Arbeitgeber wollen aber gar keine Leute, die nur Teilzeit arbeiten. Und dann ist das auch noch eine Matchingfrage: Hat der Mensch die entsprechende Ausbildung, wohnt er in der Nähe?

Zuletzt gab es Pläne, die Sanktionen zu verschärfen.

Das ist eine Scheindebatte. Wir haben kein Problem mit renitenten Bürgergeldbeziehenden, das zeigen die Statistiken immer wieder. So wird der Druck verschärft, und zwar nicht nur für die Menschen, die im Hilfebezug sind, sondern auch für die Menschen, die arbeiten. Wir müssten viel mehr darüber reden: Wie finden Menschen im Bürgergeld eine sinnvolle Arbeit, die sie langfristig ausüben können und möchten? Viele brauchen mehr Unterstützung. Das ist die Realität.

Warum ist die Erzählung von den faulen Arbeitslosen, die uns auf der Tasche liegen, immer wieder so erfolgreich?

Stete Wiederholung verfängt sich. Diese Erzählung ist ja kein neues Phänomen, die gibt es seit Jahrhunderten. Und sie ist auch kein deutsches Phänomen. Armut wurde immer wieder stigmatisiert: Man sagt, die Menschen seien selbst schuld an ihrer Situation. Das ist einfacher, als sich als Gesellschaft zu fragen: Woran liegt es, dass es Verlierer gibt? Warum dürfen reiche Menschen erwerbslos sein und von unserer Infrastruktur profitieren, wie sie wollen, während arme Menschen ausgegrenzt werden?

Unterstützen statt ausgrenzen

Um Menschen zu helfen, die wegen einer Sanktion weniger Geld vom Jobcenter bekommen, unterstützt der Verein Sanktionsfrei diese juristisch und mithilfe von Spenden. Häufiger geht es aber darum, dass das Amt plötzlich die Zahlungen eingestellt hat, die Miete nicht übernimmt oder ein Darlehen für einen Kühlschrank ablehnt. 2019 gab der Verein eine Studie in Auftrag, die die Wirkungen von Sanktionen wissenschaftlich untersucht hat. Ergebnis: Sie bringen Menschen nicht besser in Arbeit, sondern schüchtern sie vor allem ein. ujo Mehr Infos hier

Welches Bild würden Sie dem gerne entgegensetzen?

Ein positives. Die meisten Menschen wollen etwas beitragen zur Gesellschaft. Viele Bürgergeldbeziehende engagieren sich, machen wertvolle Arbeit, indem sie etwa Angehörige pflegen oder Kinder großziehen. Nur werden sie dafür nicht entsprechend bezahlt.

Sie haben selbst mal von staatlicher Hilfe leben müssen. Was haben Sie aus dieser Zeit mitgenommen?

Ich war 17, als meine Mutter von Hartz IV leben musste. Sie hatte lange Vollzeit als Erzieherin gearbeitet und uns drei Kinder großgezogen und bekam dann einen Burn-out. Ich habe gespürt, wie sehr sie gestresst und überfordert war mit dem Papierkram. Und dass sie Angst hatte vor den Terminen im Amt.

Wie kommt es dazu, dass die Jobcenter oft nicht helfen? In den Ämtern sitzen doch auch Menschen.

Die Gesetze, die die Jobcenter-Mitarbeitenden anwenden müssen, sind wahnsinnig kompliziert. Da passieren Fehler. Vieles ist auch Ermessenssache, und wenn du dann die falsche Person am Schreibtisch sitzen hast, ist das Pech. Aber: Die Situation der Jobcenter-Mitarbeitenden ist auch schwierig. Die bekommen Druck von allen Seiten: von der Politik, von Wohlfahrtsverbänden, von den Leuten, die Bürgergeld bekommen. Gleichzeitig werden die Mittel immer weiter gekürzt.

Bei der Bundestagswahl geht es auch um die Frage, wie viel Sozialstaat wir uns leisten wollen und können. Union und FDP sagen, die Sozialausgaben würden explodieren. Gleichzeitig müsse die Schuldenbremse eingehalten werden. Es gebe also keinen Spielraum, wir müssten sparen. Was sagen Sie dazu?

Ich meine: Wir können uns die Reichen nicht mehr leisten.

Was bedeutet das?

Es kann nicht sein, dass die, die eh nichts haben, noch ihre letzten Socken ausziehen müssen, damit es der Gemeinschaft gut geht. Die Anzahl der Milliardäre hat sich im Lauf der Pandemie fast verdoppelt. Wir haben Erbschaften, die quasi unbesteuert von einer Generation an die nächste gehen. Deshalb: Erbschaften müssen stärker besteuert werden. Und die Vermögenssteuer muss wieder angewendet werden.

Artikel aus der Ausgabe:

Wovor habt ihr Angst?

Für unseren Humorschwerpunkt haben wir mit Atze Schröder darüber gesprochen, wie sich Comedy verändert hat – und wie er sich selbst weiterentwickelt hat. Zudem haben wir die Clowns ohne Grenzen besucht und mit einer Psychologin über die heilende Kraft von Humor gesprochen. Außerdem im Heft: In Harburg finden Drogenkranke seit mehr als 30 Jahren Hilfe. Doch die Sozialarbeiter:innen des Abrigado fühlen sich allein gelassen.

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Autor:in
Ulrich Jonas
Ulrich Jonas
Ulrich Jonas schreibt seit vielen Jahren für Hinz&Kunzt - seit 2022 als angestellter Redakteur.

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