Suchtexperte Gernot Rücker im Interview

„Wir haben eine Diktatur des Alkohols!“

Notfallmediziner Gernot Rücker. Foto: Kristina Becker

Der Notfallmediziner und Suchtexperte Gernot Rücker hat ein Buch über den Rausch geschrieben, in dem er eine Neubewertung von Drogen fordert.

Hinz&Kunzt Randnotizen

Freitags informieren wir per Mail über die Nachrichten der Woche:

Hinz&Kunzt: Herr Rücker, warum beschäftigt Sie der Rausch so sehr, dass Sie ein Buch darüber geschrieben haben? 

Gernot Rücker: Einige der größten Probleme, die wir in der Notfallmedizin erleben, haben mit Alkohol zu tun. Wir überbringen häufig Todesnachrichten, die im Kontext von Alkohol stehen: Verkehrsunfälle, Menschen, die sich tot­getrunken haben. Alkohol ist eine der gefährlichsten Drogen, die es gibt. 

Gefährlicher als Heroin oder Crystal Meth, schreiben Sie.

Wenn wir von Gefährlichkeit reden, meinen wir die ­Summe aus Giftigkeit und sozialen Schäden: die Todes­fälle, die Erkrankungen, die Kriminalität. Wenn man sich das für Deutschland anschaut, ist Alkohol mit Abstand die Nummer eins. 

Haben Sie konkrete Zahlen? 

Wir haben pro Jahr rund 75.000 Todesfälle, die im direkten oder indirekten Zusammenhang mit Alkohol stehen. Wenn wir alle illegalen Drogen zusammennehmen, kommen wir nur auf knapp 2000 Todesfälle – bei bis zu 10 Millionen Konsumenten.

Zur Person:

Gernot Rücker ist Leiter der Notfall­medizin an der Uniklinik Rostock. In seinem Buch „Rausch – Was wir über Drogen wissen müssen“ (Mosaik Verlag) kritisiert er unseren leicht­fertigen Umgang mit Alkohol und plädiert für die Legalisierung alternativer Rauschmittel

Sie kritisieren, wie verankert Alkoholkonsum in unserer Gesellschaft ist. Was stört Sie am meisten?

Alkohol ist so allgegenwärtig, das hat absurde Züge. Zum Beispiel, dass er an Tankstellen im Kassenbereich ange­boten wird, da hat er doch wirklich nichts verloren. Es ist ein Versagen der Gesellschaft, dass wir billigen, dass schon Kinder in Kontakt mit Alkohol kommen. Bei Konfirmation und Jugendweihe etwa bieten wir Kindern Alkohol an und bei jedem Familienfest gehört er selbstverständlich dazu.

Warum ist das Trinken ein so wichtiger Teil unseres sozialen Lebens?   

Wir leben in einer Hochleistungsgesellschaft und brauchen ein Ventil, um Druck abzulassen. Da hilft Alkohol sehr gut. Er setzt die Hemmschwelle runter, ist ein soziales Bindemittel, das auf vielen kulturellen Veranstaltungen zum ­Einsatz kommt. Es gibt bessere und sicherere Substanzen, um den Rausch zu erreichen – aber wir haben eine Diktatur des Alkohols: Es gibt nur diese eine Substanz, die Sie ­nehmen müssen, wenn Sie das legal handhaben wollen. Auf der ­anderen Seite werden harmlosere Drogen wie Cannabis oder Ecstasy stigmatisiert. 

Wie sind Sie als Notfallmediziner zum Drogen- und Rauschexperten geworden? 

Als junger Mann wurde ich vom Fusion Festival angefragt, weil die vor Ort einen Arzt brauchten. Ich bin jetzt seit über 20 Jahren dabei und habe viel gelernt über das Konsum­verhalten auf Festivals. Als Arzt muss ich wissen, welche Substanzen im Umlauf sind und wie die wirken. So habe ich mich immer mehr reingearbeitet. 

Und sind zum Fan von Partydrogen geworden? 

Ich konsumiere keine Drogen. Was mir aber auffiel bei der „Fusion“ und anderen Festivals: Dass es dort eine extrem niedrige Gewaltquote gab und gleichzeitig der Konsum von Alkohol extrem gering war, allerdings andere Substanzen vermehrt konsumiert wurden. Und das ist schon eine ­Diskrepanz, wenn man das zum Beispiel mit dem Oktoberfest vergleicht, wo Gewalt- und Sexualdelikte an der Tagesordnung sind. 

Sie plädieren für den Konsum von Cannabis, aber auch Ecstasy und LSD als Alternative zum Alkohol. Verharmlosen Sie da nicht etwas? 

Diese Drogen sind in ihrer Wirkung deutlich leichter zu kontrollieren als Alkohol. Alle Pillen, die im Umlauf sind, lassen sich im Netz leicht identifizieren, man kann die ­Zusammensetzung und die sichere Dosierung nachlesen und dann sind die auch tatsächlich ungefährlich. Und beim Cannabis können Sie rauchen, so viel wie Sie wollen, da ist es unmöglich, dass Sie tot umfallen.

Was sind Ihre Forderungen in Bezug auf Alkohol? 

Wir sollten den Verkauf regulieren. Alkohol gehört nicht in den Kassenbereich von Tankstellen und Supermärkten. Und eine Preiserhöhung wäre sinnvoll, denn die hat schon immer dazu geführt, dass das Konsumverhalten zurück­gegangen ist. Das sehen wir bei Zigaretten sehr gut. Und wir müssen lernen, dass es Alternativen zum Alkohol gibt.

Menschen, die auf der Straße leben, brauchen den Alkohol oftmals, um durch den Tag zu kommen …

Alkohol ist ein Trostspender. Er bietet schnelle Kalorien, er wärmt. Dass Menschen, die auf der Straße leben, zu ihm greifen, ist nachvollziehbar. Ich finde es trotzdem falsch, diese Sucht zu unterstützen, und gebe obdachlosen Bettlern ungern Geld, wenn ich weiß, dass sie es in Alkohol investieren. Mit jedem Euro, den man da reinsteckt, ver­längert man die Sucht. 

Wie passen denn Ihre Forderungen in Bezug auf Alkohol zur Situation von obdachlosen Menschen?

Wenn man heute den Alkohol abschaffen würde, würden viele Obdachlose das nicht überleben. Bei körperlich ­geschwächten Menschen kann kalter Entzug lebens­ge­fährlich sein. Tipps zur Reglementierung von Alkohol helfen obdachlosen, suchtkranken Menschen herzlich ­wenig. Bei ihnen geht es um die Existenzsicherung. Dafür Wege zu finden ist eine wichtige gesellschaftliche Aufgabe.

Artikel aus der Ausgabe:

Eins geht noch?

Laut einer Studie kann sich etwa jede:r Fünfte in Deutschland vorstellen, einen „trockenen Januar“ – einen „Dry January“ – einzulegen. Wir haben für Sie ohne moralischen Zeigefinger mit Suchtexperten und Menschen gesprochen, die mit und ohne Alkohol leben. Außerdem im Magazin: Warum unser Hunger auf Fisch im Senegal zum Problem wird.

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Autor:in
Yasemin Ergin
freie Journalistin

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