Ex-Haftanstaltsleiter und Rechtsanwalt Thomas Galli im Interview

„Wir erreichen oft das Gegenteil von dem, was wir wollen“

Wir sollten Straffälligen vor allem helfen, den Weg zurück in die Gesellschaft zu finden, meint Thomas Galli. Foto: Ronald Hansch

Der ehemalige Haftanstaltsleiter und heutige Rechtsanwalt Thomas Galli will Gefängnisse abschaffen. Warum fordert er das, und wie soll das gehen?

Hinz&Kunzt Randnotizen

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Hinz&Kunzt: Herr Galli, die meisten Menschen kennen Gefängnisse nur aus Filmen. Wie ist das Leben dort tatsächlich?

Thomas Galli: Zumindest an der Oberfläche nicht so spannungsgeladen. Es herrscht eher eine lethargische, gedrückte Stimmung, mit immer gleichen Abläufen und Routinen, nicht sehr lebendig. Viele Außenstehende haben auch eine falsche Vorstellung davon, wer in Haftanstalten landet: Da sitzen nicht vor allem Totschläger und Vergewaltiger, sondern überwiegend Menschen, die wegen Vermögensdelikten ins Gefängnis müssen. Und sehr viele – 50.000 pro Jahr –, die zu Geldstrafen, etwa wegen Schwarzfahrens, verurteilt wurden und in Haft müssen, weil sie diese nicht bezahlen können.

Sitzt in den Gefängnissen also vor allem die schlecht ausgebildete Unterschicht?

Das Gefängnis ist kein Querschnitt der Gesellschaft. Ärzte und Topmanager sind selten. Die absolute Mehrheit stammt aus prekären sozialen Verhältnissen. Das ist ja auch eine Kritik am heutigen System: dass es soziale Ungleichheit und Ungerechtigkeit verschärft. Menschen mit wenig Geld und ohne Lobby können sich viel schwerer verteidigen. Und Staatsanwälte und Richter kommen aus ganz anderen Welten als sie.

Sie haben viele Jahre lang Haft­anstalten geleitet und sagen heute: „Gefängnisse nützen niemandem.“Wie kommen Sie darauf?

Es ist nicht sinnvoll, mehrere Hundert meist jüngere Männer gemeinsam in einer geschlossenen Anstalt einzusperren. Das weckt vor allem Aggression und Frustration. Und das reißt sie heraus aus ihren sozialen Bezügen. Wir erreichen damit das Gegenteil von dem, was wir wollen: die Täter richtig zu sozialisieren. Die meisten haben große Probleme, mit Sucht, mit Arbeit, im Beziehungsbereich. Wir müssen diese Menschen stärken, damit wir die Chance vergrößern, dass sie nicht weiter oder wieder straffällig werden. Nur den wirklich gefährlichen Menschen sollten wir weiterhin die Freiheit entziehen.

Was passiert denn, wenn viele Straftäter gemeinsam eingesperrt werden?

Das, was wohl auch passieren würde, wenn man ein paar Hundert nicht straffällige junge Männer einsperrt: Es kommt zu Machtkämpfen, zur Androhung von Gewalt und auch zu tatsächlicher Gewalt. Und die Eingesperrten entwickeln eine Oppositionshaltung gegen die, die sie einsperren: die ­Justiz, den Staat, die Gesellschaft. Klar, wir bieten im Strafvollzug auch Chancen an, etwa eine Ausbildung zu machen. Es gibt auch Menschen, die solche Chancen nutzen. Aber unterm Strich wiegen die negativen Effekte viel stärker.

Es gibt Alternativen zum Gefängnis, etwa den Täter-Opfer-Ausgleich. Statistiken zeigen aber, dass solche Modelle nur selten genutzt werden. Warum?

In unserem Strafrecht geht es in erster Linie um die Vergeltung von Schuld und nicht um die Zukunft. Und diese Vergeltung soll dadurch erreicht ­werden, dass Straftäter eingesperrt werden, um das verübte Unrecht zu verbüßen. Hinzu kommt, dass sich ­Politik und Medien hier gegenseitig verstärken: Konsequenz und Härte lassen sich von der Politik gut ver­kaufen. Und über schlimme Straftaten berichten viele Medien sehr ausführlich. Das hat Folgen: Studien zeigen, dass die Kriminalitätsquote hierzulande im Langzeittrend sinkt, die Wahrnehmung und Furcht vor Kriminalität hingegen stetig steigen. 

2011 wurden bundesweit noch 38.500 Ersatzfreiheitsstrafen durch gemeinnützige Arbeit abgewendet oder zumindest verkürzt, 2021 waren es 14.500 – also nur noch gut ein Drittel, bei annähernd der gleichen Zahl vollstreckter Geldstrafen. Wie ist das zu erklären?

Gemeinnützige Arbeit ist für die Justizverwaltung mit Aufwand verbunden. Entsprechende Stellen müssen eingerichtet werden, die Alternative muss gut kommuniziert werden. Stattdessen sind in den vergangenen Jahren Angebote wegrationalisiert worden.

Nicht mal 15 Prozent aller Straf­gefangenen kommen in den offenen Vollzug. Warum so wenig?

Gefängnisse werden in der öffent­lichen Wahrnehmung vor allem an ihrer Sicherheit gemessen. Es wird nicht gefragt: Wie viele Gefangene kommen im Anschluss an die Haft in Arbeit? Die Bundesländer als Gesetzgeber übernehmen hier zu wenig Verantwortung. Sie könnten beispielsweise ­sagen: Grundsätzlich kommt jeder ­Inhaftierte ein halbes Jahr vor seiner Entlassung in den offenen Vollzug, sofern er keine Gefahr für die Allgemeinheit darstellt. Die Länder überlassen diese Entscheidung aber den Gefängnisleitungen. Und die entscheiden sehr restriktiv, in ihrem eigenen Inte­resse, weil sie wissen: Wenn irgendetwas passiert, sind wir die Blöden.

Warum wäre mehr offener Vollzug sinnvoll?

Weil man Häftlinge von dort aus viel besser in Arbeit vermitteln kann oder sie ihren Job sogar behalten. Und weil die Menschen dort in der Lebensrealität bleiben und nicht in die Parallelwelt einer geschlossenen Anstalt gedrängt werden. Für die Gesellschaft wiederum ist das auf lange Sicht billiger, wie die skandinavischen Staaten zeigen. Dort ist offener Vollzug die Regel und die Rückfallquoten sind deutlich niedriger. Klar, so etwas ist schwer zu messen. Es gibt in Deutschland einige Studien, die beleuchten aber nicht einzelne Anstalten und deren Arbeit. Ansonsten werden Rückfallquoten nicht erfasst, was mich nicht wundert. Wer das System von innen kennt, weiß: Unterm Strich kann dieses System nicht resozialisierend wirken.

Sie fordern andere Formen von Strafe. Was stellen Sie sich vor?

Ich habe einen Klienten vertreten, der im Supermarkt geklaut hatte, ein Brötchen und eine Tüte Nüsse im Wert von 2,89 Euro. Er ist drogenabhängig und hat kein Geld gehabt. Weil er schon öfter kleine Diebstähle begangen hatte, entschied das Gericht, dass er drei Monate in Haft muss, ohne Bewährung. Da frage ich mich: Was soll das? Das hilft dem Mann nicht und wird ihn auch nicht abschrecken. Und wenn er dann draußen ist und unter Drogen steht und kein Geld hat, wird er wieder klauen und wieder inhaftiert werden – und den Steuerzahler kostet das viel Geld. Ich würde den Schwerpunkt auf zukunftsorientierte Maßnahmen legen, unter Einbeziehung der Geschädigten.

Wie sähe das in diesem Fall aus?

Mein Klient könnte zum Beispiel dazu verurteilt werden, einen halben Tag in dem Geschäft auszuhelfen, das er beklaut hat. Dann könnte ihm der Ladenbesitzer erklären, wie hart der selber sein Geld verdienen muss und welchen Schaden Diebstähle für ihn bedeuten. Eine Suchttherapie kann helfen. Und wenn ein Täter die, wie im Fall meines Mandanten, bereits mehrmals ab­gebrochen hat, braucht er intensive ­Begleitung und Betreuung im Alltag.

Wie erklären Sie Opfern von Gewaltverbrechen, dass Sie die Gefängnisse abschaffen wollen?

Es wird oft behauptet: „Gefängnisse brauchen wir, das sind wir den Opfern schuldig.“ Aber wenn sie mit Opfern sprechen, stellen Sie fest, dass deren Interessen sehr vielfältig sind. Viele haben kurz nach der Tat ein starkes Bedürfnis nach Strafe. Das kann sich aber ändern. Manche entwickeln das Bedürfnis, sich mit dem Täter auszutauschen, weil sie glauben, dass es eine heilende Wirkung für sie hat, wenn der Täter begreift, was er getan hat. Und sehr viele wollen, dass mit Tätern so umgegangen wird, dass sich so etwas nicht wiederholt. Selbstverständlich wollen viele auch konkret geschützt sein. Aber dafür brauche ich keine Gefängnisse, zumindest nicht in der heutigen Form.

Wie stellen Sie sich die Alternativen konkret vor?

In geschlossenen Einrichtungen sollten nur noch wenige Schwerstkriminelle zum Schutz der Allgemeinheit untergebracht werden. Im Übrigen ist eine dezentrale, wohngruppenartige Unterbringung sinnvoller, von wo aus mit Straffälligen in der sozialen Realität an den oft vielfältigen Problemen gearbeitet werden kann.Zudem sollten Schadenswiedergutmachung und Täter-Opfer-Ausgleich gefördert werden, sodass der Täter zum Beispiel deutlich weniger Zeit in einer überwachten Wohngruppe verbringen muss, wenn er entsprechende Leistungen erbringt.

Artikel aus der Ausgabe:

Nächster Halt: Gefängnis

Wegen Schwarzfahren in Haft? Tausende landen in Deutschland jedes Jahr im Gefängnis, weil sie sich kein Ticket für den öffentlichen Nahverkehr leisten konnten. Wir haben mit einem ehemaligen Häftling und einem ehemaligen Gefängnisleiter über die sogenannten Ersatzfreiheitsstrafen gesprochen.

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Autor:in
Ulrich Jonas
Ulrich Jonas
Ulrich Jonas schreibt seit vielen Jahren für Hinz&Kunzt - seit 2022 als angestellter Redakteur.

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