Die Bundesregierung hat ihren Plan zur Abschaffung der Obdachlosigkeit vorgestellt. Der muss konkreter werden, meint Sabine Bösing von der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W).
Bis 2030 soll jeder Mensch in Deutschland in einer Wohnung leben. Darauf haben sich die Ampel-Parteien im Koalitionsvertrag festgelegt. Nun hat das Bundesbauministerium den „Nationalen Aktionsplan gegen Wohnungslosigkeit“ (NAP) vorgelegt. Darin werden bekannte Probleme aufgelistet und Absichten erklärt. Warum das nicht ausreicht, erklärt Sabine Bösing, Geschäftsführerin der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe.
Hinz&Kunzt: Frau Bösing, die Bundesregierung hat erstmals erklärt, wie sie Obdach- und Wohnungslosigkeit bis 2030 abschaffen will. Ist der Aktionsplan der nötige große Wurf?
Sabine Bösing: Wir begrüßen es, dass die Regierung sich des Themas annimmt und ein klares Ziel formuliert. Aber: Um Wohnungs- und Obdachlosigkeit zu überwinden, brauchen wir vor allem mehr bezahlbare und soziale Wohnungen. Auch wenn die Bundesregierung die Mittel des sozialen Wohnungsbaus aufstocken will, reicht es bei Weitem nicht aus.
Bundesweit gelten mindestens 427.000 Menschen als wohnungslos, geschätzt 37.000 leben auf der Straße. Die EU-Menschenrechtskommissarin hat angesichts dieser Zahlen kürzlich Eingriffe in den Wohnungsmarkt gefordert. Welche halten Sie für erforderlich?
Die Menschen, die wohnungslos sind, haben es am schwersten, wieder Wohnraum zu bekommen, sei es wegen eines negativen Schufa-Eintrags oder wegen Vorurteilen. Deshalb fordern wir Kontingente im Sozialwohnungsbestand sowie die gezielte Akquise von Wohnungsbeständen bei privaten Vermietern und der Wohnungswirtschaft. Nötig wäre dazu ein Förderprogramm „Von der Straße in die Wohnung“, das die Wohnraumakquise speziell für obdachlose Menschen unterstützt. Wir warten immer noch auf die von der Ampel versprochene Wiedereinführung der Wohngemeinnützigkeit, die ein dauerhaft preisgebundenes bzw. bezahlbares Segment sichern würde. Und der Staat müsste sich fragen: Was ist zu tun, damit nicht Bürogebäude massenhaft leer stehen, während gleichzeitig Menschen auf der Straße leben müssen? Eine weitere Möglichkeit besteht darin, sogenannte Schlichtwohnungen und Notunterkünfte zu sanieren, in Sozialwohnungen umzuwandeln und wohnungslose Haushalte somit in den allgemeinen Sozialwohnungsbestand zu integrieren.
Obdachlosen Menschen aus EU-Staaten wie Rumänien oder Polen macht der Plan besonders wenig Hoffnung. Ihr Problem ist ja, dass sie oft nicht mal ein Bett in einer städtischen Notunterkunft bekommen. Was muss geschehen?
Laut Gesetz sind die Kommunen verpflichtet, jede und jeden unterzubringen. Das tun sie aber nicht immer. Und selbst wenn diese Menschen ein Bett bekommen: Nachhaltige Hilfen werden ihnen oft verwehrt – obwohl deutlich mehr als angenommen von ihnen Rechtsansprüche darauf haben, aber sie nicht durchgesetzt bekommen.
Sie fordern zeitlich festgelegte und überprüfbare Maßnahmen, für deren Umsetzung klare Verantwortlichkeiten festgelegt werden sollten. Haben Sie ein Beispiel?
Der Zugang zur Gesundheitsversorgung ist für obdach- und wohnungslose Menschen oft schwierig. Im NAP steht, das Ministerium entwickle ein Konzept, um den Zugang zur Krankenversicherung zu sichern. Was heißt das? Wer muss wie handeln? Nicht nur an dieser Stelle muss der Aktionsplan viel konkreter werden, um das 2030er-Ziel zu erreichen.
In Deutschland wird seit Jahrzehnten zu den Gründen von Obdachlosigkeit geforscht. Trotzdem will die Regierung eine „Kompetenzstelle“ einrichten. Geldverschwendung?
Geplant sind neben der Kompetenzstelle zum Beispiel auch eine Wissensplattform und ein Forschungsnetzwerk. Da fragt man sich schon: Könnten wir das Geld an anderer Stelle nicht besser nutzen? Die Kompetenzstelle wird laut Ministerium vor allem zur Abstimmung von Maßnahmen mit den anderen Ministerien und zur Umsetzung von möglichen Förderprogrammen eingerichtet. Das ist sicher wichtig. Aber der Name führt zu Irritationen.
Was am Aktionsplan macht Ihnen Hoffnung?
Es ist gut, dass das Thema in der Politik und in der Öffentlichkeit diskutiert wird. Und es gibt Ansätze, die in die richtige Richtung weisen. Es sind ja regelmäßige Arbeitsrunden wie Fachforen in Planung, um in die Umsetzung des Plans zu gehen. Ich hoffe, dass es uns dort gelingen wird, aus den Ansätzen schnell konkrete Maßnahmen zu entwickeln.
Anmerkung der Redaktion: Das Interview wurde Mitte April auf Grundlage des NAP-Entwurfs geführt. Der finale Plan wurde nach Redaktionsschluss veröffentlicht. Mehr Infos im Internet unter www.bagw.de und www.bmwsb.bund.de