Wer die nächsten Monate in einem Wohncontainer leben darf, darüber entscheidet in Hamburg das Los: 80 obdachlose Bewerber standen am Freitag für 50 Plätze Schlange.
Kurz vor Sonnenaufgang in Eimsbüttel, die Straße vor der Tagesaufenthaltsstätte (TAS) der Diakonie liegt noch im Dunkeln. Ein Bus kommt an, ein paar Männer steigen aus und reihen sich ein in die Schlange derjenigen, die schon auf dem schmalen Fußweg warten. Rund 80 Personen, dick eingepackt, manche mit Gepäck, andere nur mit einer kleinen Tasche. Noch sind es sechs Grad, doch heute soll ein milder Herbsttag werden. Für manche der Wartenden könnte er auch einen milden Winter bedeuten.
Denn all die Menschen, die hier stehen, hoffen darauf, in einem der Container übernachten zu können, die Teil des Winternotprogramms der Stadt Hamburg sind. An diesem Morgen werden die 55 Plätze für Männer vergeben, am Sonntag die für Frauen. Einige wenige sind auch für Paare vorgesehen. Einige Härtefälle, so heißt es von offizieller Seite, haben bereits einen Container zugewiesen bekommen. Bei all den anderen entscheidet an diesem Morgen das Los.
Immer wieder durchschneiden Fahrradklingeln die morgendliche Stille, drängen die Männer an die Seite. Einen 50-Jährigen zum Beispiel, der das ziemlich unbeeindruckt zur Kenntnis nimmt. Er lehnt sich an den Zaun hinter sich, die Kapuze über die Wollmütze gezogen. Sein Name, Tyberius, sei polnisch, mitgenommen aus der Heimat. Hier stellte er sich häufiger als Josef vor, sein Zweitname. „Ist einfacher für die Deutschen“, sagt er. Für einen Containerplatz steht er das erste Mal an, lebt aber schon seit drei Jahren auf der Straße. Er weiß das zu diesem Zeitpunkt noch nicht, aber er wird einer derjenigen sein, die schon eine Stunde später im Warmen sitzen und einen privaten Schlafplatz für diesen Winter zugewiesen bekommen.
Doch noch ist Tyberius wenig hoffnungsvoll. Er sieht schlecht, sei zuckerkrank, alt fühle er sich. Ein eigener Schlafplatz im Warmen wäre da eine gute Sache. Er weiß, dass es auch noch andere Schlafplätze im Winternotprogramm gibt. Doch hier gibt es wenig Privatsphäre, tagsüber muss man die großen Unterkünfte mit hunderten anderen wieder verlassen. Im Container hingegen hat man Platz für sich, kann ihn absperren. Tyberius blickt auf die lange Schlange vor sich, auf die anderen Männer und sagt: „Wir leben ja alle auf der Straße.“ Und alle wünschen sich an diesem Morgen dasselbe wie er.
Ein paar Minuten später, ein anderer Mann mit Wollmütze. Auch er sagt, dass er für all das doch eigentlich zu alt sei. Er hat sein Los schon gezogen: Kein Platz im Container, dafür ein Zettel mit Adressen für das restliche Winternotprogramm. Insgesamt 1030 zusätzliche Schlafplätze stellt die Sozialbehörde in diesem Winter zur Verfügung, rund 100 davon in Containern, hunderte andere in riesigen Unterkünften. Der Mann hat den Kaffeebecher in seiner Hand zerknüllt, spricht mit langsamer Stimme. Was er jetzt mache? Er zuckt mit den Schultern. „Das ist wie Lotterie“, sagt er.
Die Chance auf einen privaten Schlafplatz, tatsächlich funktioniert sie in Hamburg seit einigen Jahren wie das bekannte Glücksspiel. Wer ein Los mit der passenden Nummer zieht, bekommt einen Container zugeteilt. Wer nicht, muss sich einen anderen Schlafplatz für den Winter suchen.
Nina Behlau, Projektleiterin des Wohnungslosenzentrums der Diakonie, versteht, wie absurd das klingt. Natürlich, sagt sie, würde man am liebsten allen Leuten einen Schlafplatz anbieten. Doch von den Containern gibt es nicht genug, in diesem Jahr sind es sogar noch ein paar weniger als in den Jahren zuvor. Tatsächlich habe sie aber gemerkt, dass das Losverfahren als deutlich gerechter unter den Menschen aufgefasst wird. Das Glück entscheidet, wer einen Platz erhält; nicht wer ganz vorne in der Schlange stand oder den besten Kontakt zu den Mitarbeitenden pflegt.
Immer wieder gehen Männer an ihr vorbei, die keinen Platz erhalten haben. Einer hat den Kaffee in der Hand, den er mit der Absage bekommen hat und bleibt auf dem Weg stehen. Ein Fahrradfahrer rast vorbei, brüllt ihn an: He, aus dem Weg! Behlau dreht sich um, fragt: Ist alles ok? Der Mann nickt. Nur ein bisschen Kaffee verschüttet.
Andere machen ihrem Ärger Luft, einer verlässt das Gebäude laut schimpfend. Der nächste, auch er hat heute keinen Schlafplatz bekommen, sagt in ruhigem Englisch zu ihm, dass es nun mal eine „50-50-Chance“ sei. „Nächstes Mal vielleicht“, versucht er ihn aufzumuntern. Bullshit, ruft der andere.
Der Weg der Wartenden scheidet sich an der Losschachtel, eine durchsichtige Plastikbox am Eingang des Zentrums. Entweder geht es von ihr aus zurück auf die Straße oder in den Speisesaal der TAS. In dem sitzt zum Beispiel Dominik, zieht einen blauen Zettel aus der Tasche: Nummer 55. So viele Containerplätze werden in diesem Jahr über das Losverfahren vergeben, der Hinz&Kunzt-Verkäufer hat also den letzten Platz erhalten. Seit zwei Jahren lebt er auf der Straße, schon im vergangenen Jahr hat er einen der Containerplätze gezogen. Er freut sich sichtlich, posiert gerne für ein Foto. Nun wartet er, bis er aufgerufen wird. Am ersten November darf er in seinen Container einziehen und die kommenden fünf Monaten dort bleiben.
Das Ziel des Hamburger Winternotprogramms für Menschen wie Dominik sei es auch, so wird Sozialsenatorin Melanie Leonhard (SPD) in der entsprechenden Pressemitteilung zitiert, „zur Ruhe zu kommen und bei Bedarf mit fremder Hilfe die eigenen Optionen durchzugehen.“ Um, so heißt es weiter, „Schritt für Schritt die Straße hinter sich zu lassen.“ Zur Ruhe kommen, das geht erfahrungsgemäß am besten in den Containern.
Tanja und Patric, die an diesem Morgen auch an einem Tisch im Speisesaal der TAS sitzen, sehen das grundsätzlich ähnlich. Der Container, den Patric durch sein Los bekommen hat, bedeutet für die beiden vor allem: Entlastung. Tanja ist heute nur als Begleitung dabei, denn die Schlafplätze für Frauen werden erst am Sonntag vergeben. Das Paar erzählt von seinem gemeinsamen Alltag und von den 40 Kilo an Schlafsäcken und Habseligkeiten, die Patric normalerweise den Tag über für sie trägt, weil Tanja an Rückenschmerzen leidet.
Das Leben auf der Straße ist teuer, sagen sie. Man könne nicht vorkochen, sich nicht mal einen Salzstreuer kaufen, sondern immer nur kleine Päckchen holen. Der Container, hoffen sie, gibt ihnen erstmal Zeit, sich auf die Wohnungssuche zu konzentrieren. Fünf Monate lang ein paar Sorgen weniger: Diese Hoffnung legen die beiden in den blauen Zettel. Für die anderen gilt das erstmal nicht. Für sie geht die Suche nach einem Schlafplatz weiter.