Im schleswig-holsteinischen Gudow erleichtern die Kirchengemeinde und die Diakonie ankommenden Flüchtlingen den Start in ihr neues Leben. Für diese „Willkommenskultur“ haben die Initiatoren den Innovatio-Preis 2013 gewonnen.
(aus Hinz&Kunzt 251/Januar 2014)
Gleich am ersten Tag, als die Familie ihre nun eigene Wohnung bezieht, macht sich Ramez auf den Weg, um zu erkunden, in welchem Ort sie heimisch werden sollen. Er geht die Dorfstraße entlang, die zu Recht „Hauptstraße“ heißt, und an der sich schnuckelige Häuschen und monochrome Backsteinbauten aneinanderreihen. Wir sind im Süden Schleswig-Holsteins, irgendwo im Kreis Herzogtum Lauenburg, es ist eine schöne Gegend, grün, leicht gewellt, mit vielen Seen.
Ramez geht am Dorfkrug vorbei, am Hof, wo man Kartoffeln direkt vom Bauern kaufen kann, und erreicht schließlich den Eins-a-Fußballplatz mit Kunstrasen und Flutlichtanlage. „Ich habe mich dort im Verein vorgestellt, habe gefragt, ob ich mitmachen kann, mein Deutsch war noch nicht so gut“, erzählt er. „Sie haben gesagt, nee, sie hätten grad genügend Spieler, leider, da war ich sehr traurig.“ Aber er lässt nicht locker: „Ich habe als Nächstes gefragt, ob ich nicht mal ein Probetraining mitmachen kann.“ Das wollen sie ihm nicht abschlagen, und ein paar Tage später sprechen die beiden Fußballtrainer mit Ramez’ Eltern und beratschlagen, wie man es hinbekommen kann, dass Ramez, der 19-jährige Flüchtling aus Afghanistan, der Asylbewerber, der frisch Zugezogene, aber vor allem der junge, sportliche Mann, im Verein Mitglied werden kann. Danach spielt Ramez bei den ersten Herren. Zwei Jahre ist das jetzt her.
Es gibt also immer eine kleine Hürde, über die man springen muss? „Ja“, sagt Ramez und lacht verlegen: „Man muss wollen, man muss aber auch Hilfe haben, nach der muss man fragen.“ Muss schauen, wie Türen, die eben noch fest verschlossen schienen, einen Spalt zu öffnen sind – damit man dann später elegant wie selbstverständlich hindurchgehen kann. Dass Ramez das kann, dass er das gelernt hat, dass er weiß, dass im Konfliktfall nicht laute Anklagen, nicht Vorwürfe, sondern erklärende Gespräche helfen, dass man auch mal ein bisschen tricky sein muss, verdankt er neben dem Rückhalt in seiner Familie der Arbeit des Projektes „Willkommen in Deutschland im Herzogtum Lauenburg – Ankommen in Gudow“. Dahinter steckt die örtliche Diakonie.
„Alles war fremd, wir waren noch nie in Europa gewesen.“
Immer wenn in Ramez’ Familie das Wort Diakonie fällt, ist es, als ginge die Sonne auf. Wirklich. Ramez’ Schwester Parisa hat die Diakonie geholfen, einen Platz am Studienkolleg zu bekommen, hat ihr die nötigen Sprachkurse vermittelt, heute studiert die 20-Jährige in Hamburg Bauingenieurswesen. Im Sommer 2010 hat die sechsköpfige Familie ihre Heimatstadt Herat im Westen Afghanistans verlassen und ist in Hamburg angekommen. „Wir haben uns bei der Polizei gemeldet, haben uns vorgestellt und man hat uns weiter nach Neumünster geschickt“, sagt Parisa. „Wir wussten nicht, wie das Asylverfahren in Deutschland läuft, alles war fremd, wir waren noch nie in Europa gewesen. Wir dachten, vielleicht bekommen wir eine kleine Wohnung mit zwei, drei kleinen Zimmern.“
Stattdessen müssen sie sich in Schleswig-Holsteins Zentraler Aufnahmestelle für Flüchtlinge zu sechst einen Raum teilen, um 21 Uhr muss man auf dem Gelände sein, morgens um 9 Uhr wird wieder aufgeschlossen. Im Zimmer kochen dürfen sie nicht, es gibt auch keine Gemeinschaftsküchen, es gibt eine Essensausgabe, und es muss gegessen werden, was auf den Tisch kommt. „Neumünster war schlimm, na ja, ein bisschen schlimm, Gudow war besser“, sagt Parisa. Dorthin wurden sie nach zwei Monaten weiterverteilt.
Gudow? Das ist ein kleiner Ort neben der Autobahn nach Berlin, ein ehemaliger Grenzübergang. „Als wir in Neumünster erfuhren, dass wir nach Gudow verteilt würden, haben alle gesagt: ‚Oh Schreck! Das ist am Ende der Welt, da ist nur Wald, sonst nix‘“, lacht Parisa. Aber so schlimm ist es dann nicht: Es gibt weitere afghanische Familien; die Familie hat jetzt zwei Zimmer, aber vor allem gehen die Kinder zur Schule, und damit das klappt, bekommen sie Deutschkurse. Zusammen mit den anderen afghanischen Jugendlichen haben sie sich auch selbst Deutsch beigebracht, „beim Gehen durch den Wald“, sagt Parisa. „Zum Beispiel alle Zahlen zwischen eins und 100, auf Deutsch natürlich“, ergänzt Ramez.
„Das ist toll, was ihr da vorhabt, aber das wird nichts.“
Ist das nicht ein schönes Bild? Afghanische Jugendliche gehen durch einen deutschen Wald und lernen Worte wie „siebenundzwanzig“ oder „dreiundachtzig“. Zugleich etabliert sich in Gudow ein Netzwerk, das den Flüchtlingen helfen und ihre Potenziale nutzen will, initiiert und getragen von der örtlichen Diakonie. Dessen Motto: „Willkommen – wer immer du bist!“ Die Bürgermeister von Gudow sind bald mit im Boot, der jetzige und der ehemalige auch. Die Hebammen sind mit dabei, das Deutsche Rote Kreuz, die Pastorin natürlich auch. Und selbstverständlich hat es nicht einfach Plopp gemacht und alles war gut. Heiko Steiner, Leiter der Diakonie im Herzogtum, erklärt, wie zäh der Anfang war: „Als wir unsere Ideen vorstellten, meldete sich jemand zu Wort und sagte: ‚Das ist toll, was ihr da vorhabt; aber das wird nichts.‘“ Dass etwas gut ist, aber nicht möglich sein soll – das gibt ihm damals wie heute zu denken. Und motiviert ihn entsprechend. Inzwischen haben sie in ihrer Unterkunft einen bislang verschlossenen Raum bekommen, in dem Spielgruppe, Deutschkurs oder Weihnachtsfeier stattfinden.
Mithilfe vieler Ehrenamtlicher versuchen sie, möglichst jeden Tag vor Ort zu sein, jeder Familie ein Willkommenspäckchen zu packen, mit Adressen von Ärzten, Beratungs- und Anlaufstellen – und Spielzeug für die Kinder. Esmat Shirazi leitet als Honorarkraft das Projekt. Sie ist einst selbst aus dem Iran geflohen, zusammen mit ihrem damals dreijährigen Sohn. Das ist lange her, Esmat Shirazi ist da 29 Jahre alt und Lehrerin. Sie kam über Hamburg nach Lübeck, dann nach Gudow. „Gudow“, sagt sie und holt tief Luft. „Wir hatten einen langen, schmalen Raum, zwei Metallbetten, einen blauen Metallschrank und mitten im Raum war eine Säule.“ Statt Geld gab es Gutscheine – und jedesmal im Supermarkt an der Kasse ein Geraune, wenn sie, die doch kaum Deutsch konnte, die Zahlen zu verstehen versuchte.
Esmat Shirazi wurde selbst aktiv: Sie ermunterte die anderen Bewohner, die Unterkunft wohnlich zu gestalten. Gemeinsam räumten sie den Müll weg, der sich auf dem Unterkunftsgelände angesammelt hatte. Das gefiel der Leitung der Unterkunft nur bedingt: Während andere Flüchtlinge bis zu einem Jahr in Gudow bleiben, schickt man sie und ihr Kind nach zwei Monaten weiter: nach Mölln, vorerst in einen Wohncontainer.
„Das Projekt ist mehrfach ausgezeichnet worden.“
Das Warten sei das Zermürbende gewesen; das Nichtstun. Mühsam, langsam und allein kämpfte sie sich durch. Jobbte als Putzfrau, als Verkaufshilfe, als Zimmermädchen. Und dann lernte sie in Mölln das Berufsschulzentrum kennen. Erfuhr von der Möglichkeit einer Ausbildung zur sozialpädagogischen Assistentin – und wurde aufgenommen. Immer wieder kehrt Esmat Shirazi zurück nach Gudow. Bringt Kleidung mit, Lebensmittel, die es dort nirgends gibt, wie frischen Koriander oder Fleisch, das nach muslimischen Vorschriften geschlachtet wurde. Sie kocht mit den Frauen, bastelt mit den Kindern, versucht ein bisschen Leben in die Unterkunft zu bringen. Die Behörden unterstützen sie nicht; behindern sie aber auch nicht.
Man lässt sie einfach machen. Und dann absolviert sie im Rahmen ihrer Ausbildung ein Praktikum bei der Diakonie, taucht ein in deren Migrationsarbeit und baut langsam in Gudow ein Netzwerk auf, für die Familien vor Ort, aber auch für die Familien, die von Gudow aus im Landkreis auf einzelne Wohnungen verteilt werden und dort oftmals ganz isoliert leben. Im vergangenen Herbst erhielt Esmat Shirazi von Bundespräsident Joachim Gauck für dieses Engagement den Bundesverdienstorden. Auch das Projekt selbst ist mehrfach ausgezeichnet worden.
„Manchmal bin ich neidisch, wenn ich sehe, was heute für Flüchtlinge getan wird – im Gegensatz zu damals.“
Was nicht heißt, dass alles jetzt ganz einfach ist. Esmat Shirazi sagt: „Manchmal liege ich nachts wach und überlege, wen man noch ansprechen, mit welcher Schule man noch kooperieren könnte.“ Sie sagt: „Zwei Stunden in Gudow arbeiten, das ist manchmal wie acht Stunden im Job. Unser Raum dort ist ein Raum voller Trauer, mit Weinen, gleichzeitig mit Freude, oft auch voller Mühen.“ Sie sagt: „Ganz ehrlich: Manchmal bin ich neidisch, wenn ich sehe, was heute für Flüchtlinge getan wird; was heute möglich ist – im Gegensatz zu damals.“ Esmat Shirazi arbeitet im Hauptberuf heute in Hamburg als Erzieherin in einer Integrationsschule; fährt davor oder danach nach Gudow, wo heute so ein anderer Wind weht; ist viel im Landkreis unterwegs, hält Kontakt zu Familien, wie der von Ramez und Parisa und und ihrem jüngeren Bruder Zaher.
Die Familie hat heute einen ganz normalen Tag hinter sich: Parisa saß wie jeden Wochentag um zehn vor sechs im Bus nach Ratzeburg, wechselte auf den Bus nach Hamburg, dann weiter mit der S-Bahn zur Hafen- City Universität. Schon nach den ersten Stunden hatte ihr Professor sie zu einem bundesweiten Wettbewerb in den Fächern Mathematik und Physik nach Erfurt geschickt, er hat ihren Einwand, das ginge nicht, sie spreche doch noch nicht so gut Deutsch, auf sanfte Weise einfach nicht gelten lassen.
Ihr Bruder Ramez, auch er eine Mathematikfan, stand um 9.15 Uhr in seiner Berufsschulklasse, schrieb lässig mit Kreide die Formeln für Funktionsgleichungen und Achsenschnittpunkte an die Tafel; war später noch im Fitnessclub und stellt nun seine Sporttasche in das Zimmer, das er sich mit seinem Bruder Zaher teilt. Mutter Torpikai hat ihre jüngste Tochter Faryal zum Kindergarten gebracht, hat sie dort wieder abgeholt; sie hat mittags gekocht, sie war einkaufen, sie hat abends gekocht und jetzt bespricht sie mit Diana Bauder, was genau das für ein Schwimmangebot für muslimische Frauen ist. Vater Said Qaher ist heute Mittag in seine beige Windjacke geschlüpft, hat sich seine Adidas-Sporttasche umgehängt, die Schirmmütze aufgesetzt und ist per Bus zu seinem Deutschkurs nach Lübeck gefahren.
„Wenn ich alles habe, aber meine Kinder sind nicht sicher, dann ist das nichts.“
Nun ist es halb acht, er ist gerade zurück, draußen ist es längst finster. Der Fernseher läuft nebenher, Nachrichten aus Afghanistan, wie bei uns die Tagesschau. Und wenn nicht alles täuscht, dann war da eben ein kurzes Zucken um Saids Mundwinkel. „Obwohl ich mein Leben in Afghanistan verloren habe, bin ich froh, dass meine Kinder heute in Deutschland in Sicherheit sind“, lässt er seine Tochter ins Deutsche übersetzen. „Wir hatten eine große Wohnung, wir hatten Grundstücke, wir haben immer gearbeitet, ich war in Afghanistan bekannt, aber das ist nicht wichtig: Wenn ich alles habe, aber meine Kinder sind nicht sicher, dann ist das nichts.“ Er sagt: „Als wir in diesen Ort kamen, haben wir uns nicht fremd gefühlt; ja, wir hatten Probleme, aber die Diakonie hat uns immer geholfen.“
Seine Sorge gilt seinem 18-jährigen Sohn Zaher: Er war schon in Afghanistan krank, er war noch länger in Gudow krank und konnte dort oft nicht zur Schule gehen, nicht so regelmäßig am Deutschkurs teilnehmen wie seine Geschwister. Doch langsam schöpft Zaher wieder Kraft, die Diakonie hat ihm eine neue Schule vermittelt. „Geht es dort besser?“, fragt Diana Bauder vorsichtig. „Ja, sehr viel besser“, sagt Zaher und richtet sich auf. Auch hilfreich: ein Sprachpate. Zahers nächstes, großes Ziel ist der Hauptschulabschluss.
Fehlt noch jemand? Die kleine Faryal fehlt noch. Vier Jahre alt, geht seit Kurzem in den Kindergarten, auch dabei hat die Diakonie vermittelt. Faryal hat, wie es sich für ihr Alter gehört, einen „Hello-Kitty“-Rucksack und trinkt aus einem „Hello-Kitty“-Becher, und beim Spielen, beim Rumtoben streut sie längst alltagstaugliche deutsche Halbsätze wie „Moment mal“ oder „Ey, warte mal kurz“ in ihr Farsi. Ihr werden wohl gleich vor Müdigkeit die Augen zufallen und sie wird selig schlafen, vielleicht mit Stoffponys im Arm. Gibt es in Afghanistan eigentlich Ponys?
Text: Frank Keil