Alle Kommunen fühlen sich überfordert von den EU-Zuwanderern aus Rumänien und Bulgarien und wollen sie am liebsten wieder heimschicken. Alle? Nein, der Berliner Bezirk Neukölln setzt auf Integration.
(aus Hinz&Kunzt 244/Juni 2013)
Neukölln, eine Grundschule im Jahr 2010. Ein Kind sitzt am Tisch und weint bitterlich. Nur mühsam kriegt die Lehrerin heraus, was eigentlich los ist: Das Kind, das vor ein paar Monaten mit seiner Familie aus Rumänien nach Neukölln gekommen ist, versteht so gut wie nichts. Dabei hatte sich das Kind doch so auf die Schule gefreut.
Es gab wohl mehrere Erlebnisse wie dieses. Sie haben nicht nur die Lehrer berührt, sondern auch Franziska Giffey. 2010 war die Sozialdemokratin gerade Bezirksstadträtin für Bildung in Neukölln geworden. „Es war das erste Thema, das bei mir auf dem Tisch lag.“ Schulleiter hatten sie um ein Gespräch gebeten: „Frau Giffey, was sollen wir tun? So ist Unterricht nicht möglich!“ Bis dahin war es üblich, dass eingewanderte Kinder einfach in die Klassen aufgenommen wurden und sozusagen „im Sprachbad“ – soll heißen, in ihrer natürlichen Umgebung – Deutsch lernen sollten. „Das mag zwar funktionieren, wenn man in einer Umgebung die neue Sprache lernt, in der alle gut Deutsch sprechen, aber das ist bei uns nicht überall der Fall“, sagt Franziska Giffey. Zur Erinnerung: In Neuköllner Schulen haben die meisten Kinder einen Migrationshintergrund.
Das „Sprachbad“ wurde für inzwischen 800 Kinder ohne Deutschkenntnisse an Neuköllner Schulen – viele davon aus Rumänien und Bulgarien – also abgeschafft. Die Kinder, die meisten sind übrigens Roma, besuchen erst mal Willkommensklassen, in denen sie von Lehrern, die ihre Sprache sprechen, unterrichtet werden.
Wenn alles gut läuft, wechseln sie dann nach sechs oder neun Monaten in die reguläre Schulklasse. In den großen Ferien bietet Neukölln eine Sommerschule an, damit die Kinder nicht wieder vergessen, was sie schon gelernt haben. Beim ersten Mal waren die Initiatoren noch ganz schön aufgeregt. „Wir wussten nicht, ob überhaupt ein Kind kommen würde in den Ferien“, sagt Franziska Giffey. Um 9 Uhr sollte die Schule starten. „Schon eine Stunde vorher waren die Kinder da, die meisten sogar in ihren Sonntagskleidern.“
Inzwischen hat Neukölln ein umfassendes Integrationsmodell, das nicht nur die Kitas, die Schulen, sondern auch andere grundlegende Lebensbereiche umfasst wie Gesundheit und Wohnen. Voraussetzung dafür war, dass der Bezirk eine Haltung zum Thema EU-Armutswanderung entwickelt hat: Die Menschen, die da kommen, sind europäische Unionsbürger. Sie werden kommen, sie werden bleiben – und sie dürfen bleiben, ist die Devise. „Bundesweit geht die Debatte tatsächlich noch darum, dass man eine Rücksende-Option hat“, sagt die promovierte Politikwissenschaftlerin Giffey und klingt erstaunt. „Für mich lässt das völlig außer Acht, dass wir ein sehr hohes Gut, das Freizügigkeitsrecht haben.“ Knallhart ausgedrückt: „Die Debatte über Rückfahrkarten ist nicht mehr zeitgemäß.“
Das merkt inzwischen auch die ein oder andere Kommune – und Franziska Giffey und ihre Europabeauftragte Cordula Simon sind derzeit als Gesprächspartner sehr gefragt. Das Konzept: Der Bezirk hat alle Akteure an einen Tisch geholt: Schulen, Kitas, Organisationen, Polizei und Behörden. Jeder soll sagen, was er zum Arbeiten braucht, aber es wird auch darauf geachtet, dass sich keine Angebote überschneiden, „dass man sich nicht auf die Füße tritt“. Vernetzung wird großgeschrieben. Die Gelder wurden und werden bei der EU, beim Bund und beim Senat eingeworben oder durch den Bezirk aufgebracht.
Beispiel Nachbarschaftsheim Neukölln: Bernhard Heeb und sein Team bieten alles rund um das Thema Familie an. Von Sport und Spiel mit Kindern bis aufsuchende Arbeit in den Familien. Eigentlich waren die Mitarbeiter immer gewohnt, dass sie ihre Besucher – die meisten waren Neuköllner mit türkischem oder arabischem Hintergrund – stark motivieren mussten. „Wir haben sie fast schon am Kragen hierhergezerrt“, sagt Geschäftsführer Heeb. Was die Roma anbelangt, ist es das krasse Gegenteil. „Sie sind ganz anders, offen und dankbar für jede Hilfe.“
Nicht nur die Kinder kommen, sondern auch die Mütter, die gleich Briefe mitbringen, die sie nicht verstehen. Aufsuchende Sozialarbeit ist in seinem Bereich kaum noch notwendig. „Zum ersten Mal in der Geschichte des Nachbarschaftsheims müssen wir Wartenummern verteilen“, so Heeb. Von der Zusammenarbeit mit dem Bezirk und der Europabeauftragten Cordula Simon kann er nur schwärmen. „Wir brauchten nur zu sagen, dass wir Sprachmittler brauchen, und schon wurden sie von Cordula Simon ins Haus geschickt. Wir mussten nicht mal Personal suchen.“
Aber es wäre gelogen zu sagen, dass alles rundläuft. Beim Thema Wohnen geraten alle an ihre Grenzen. 32 Schrottimmobilien gibt es in Neukölln: Die Heizung funktioniert nicht, es gibt nicht genug Müllcontainer, die Häuser sind teilweise undicht, es gibt Schimmelbefall und Ungeziefer. Die meisten dieser Häuser sind an Rumänen und Bulgaren vermietet, für teuer Geld. „Aber solange wir keine Mängelanzeige von Mietern vorliegen haben, können wir nur in den öffentlichen Bereich der Häuser.“
Im Nachbarschaftsheim versuchen die Mitarbeiter deshalb, die Bewohner aufzuklären. „Viele haben ja einen regulären Mietvertrag, da haben sie auch Rechte.“ Aber das Ganze ist eben nicht so einfach. „Sie haben Angst, die Wohnung zu verlieren und dann auf der Straße zu stehen“, so Heeb. Und die Ausbeuter-Vermieter haben die Mieter auch in der Hand: Viele der Wohnungen sind überbelegt, und manche sind mit den Mietzahlungen in Verzug. Und nicht nur mit diesen Zahlungen. Rund um das Thema Wohnen habe sich ein richtiger Abzockmarkt gebildet: Eintreiber gehen rum und sammeln das Geld bar ein, dann werden noch teure Nebendienste angeboten: Anmeldung, Gewerbeanmeldung oder Ausfüllen des Kindergeldantrags.
„Und die Eigentümer können die Schrottimmobilie auch noch von der Steuer absetzen!“, sagt Franziska Giffey aufgebracht. „Wir haben sogar Möglichkeiten geprüft, die Eigentümer zu enteignen, aber die juristischen Hürden sind zu hoch“, sagt die Bezirksstadträtin. Bleibt nur noch, die Mieterarbeit zu unterstützen – und „Blaming and Shaming“, also die Abzock-Vermieter öffentlich vorzuführen. Und nennt auch gleich zwei Namen: die Gebrüder Thieme und den Vermieter Peter. Immerhin: Heeb und sein Team haben es geschafft, dass in zwei Häusern jetzt geheizt wird und dass mehrere Zwangsräumungen verhindert wurden.
Ein anderes, bislang auf EU-Ebene ungelöstes Thema: Viele der Zuwanderer sind nicht krankenversichert. Und wenn doch, „dann ist es das Papier nicht wert, auf dem es geschrieben steht“, sagt Franziska Giffey. Der Grund: In Rumänien liegen die Beiträge bei rund 10 Euro monatlich. Kommt ein Rumäne in Deutschland ins Krankenhaus, muss die rumänische Krankenkasse die Kosten übernehmen. Tut sie aber nicht mehr, aus Angst, pleitezugehen, so Giffey. Das soziale Gefälle zwischen den beiden Ländern ist zu groß. Ergebnis: Die Berliner Krankenhausgesellschaft bleibt auf den Kosten sitzen – und die Krankenversorgung ist für die Neuzuwanderer prekär. Franziska Giffey hat deshalb wenigstens eine kostenlose Impfaktion für alle Kinder in den Grundschulen gestartet. Den Impfstoff bezahlt der Senat, die Aktion der Bezirk. „Wir haben einen Arzt aus dem Ruhestand geholt und eine Schwester, und die beiden sind durch die Schulen getourt.“
Die Europabeauftragte Cordula Simon liegt gerade im Clinch mit dem Jobcenter. Das Problem: „Die EU-Zuwanderer haben noch kein Anrecht auf Hartz IV, und bei den Selbstständigen kann das Recht auf Aufstockung oft nicht durchgesetzt werden“, sagt die 41-Jährige. „Dabei sind die Einkünfte, was viele wissen, sehr, sehr gering.“ Das Ergebnis: „Sie fallen auch bei allen Vergünstigungen hinten runter.“ So sollen sie bei den Deutsch- und Integrationskursen 120 Euro dazubezahlen. „Das geht gar nicht!“
Selbst Lebensmittel von der Berliner Tafel bekommen die oft bitterarmen Familien deshalb nicht. „Ich habe mich schon durch ganz Berlin telefoniert“, sagt Bernhard Heeb. Es gibt also noch viel zu tun. Und Neukölln sei langsam am Rande seiner Kapazitäten, räumt Franziska Giffey ein. Sie kann nur hoffen, dass die Zuwanderer auf dem umkämpften Arbeitsmarkt eine Chance haben. Für die Kinder ist sie optimistisch. „Wenn die Kinder es schaffen, einen Abschluss zu machen, dann haben sie eine echte Lebenschance.“ Bei manchen Kindern muss man gar nicht so lange warten. „Neulich hat ein Roma-Junge, der erst zwei Jahre hier lebt, den Mathematikwettbewerb seiner Schule gewonnen“, sagt Cordula Simon und strahlt so stolz, als würde sie über ihr eigenes Kind sprechen.
Text: Birgit Müller
Fotos: Martin Kath