Auf der Hamburger Elbinsel Wilhelmsburg kämpft ein Wohnprojekt gegen den Abriss. Die Stadt will es der Deicherhöhung opfern. Ein Vorgeschmack darauf, was vielen anderen Deichanrainern droht. Aber muss das sein?
Was passiert, wenn die Deiche brechen, weiß man in Wilhelmsburg. 222 Menschen kamen bei der großen Flut 1962 in diesem Stadtteil ums Leben. Sie ertranken oder wurden von den Trümmern einstürzender Häuser erschlagen. Auch an der Wand eines Hauses in der Wilhelmsburger Fährstraße erinnert eine Markierung an den Wasserstand der großen Flut, in Brusthöhe. Einen knappen Meter höher hat jemand eine weitere Marke angebracht: Flut 2032.
Wahre Wassermassen sind es, die Hamburg ob des Klimawandels drohen. Deshalb lässt die Stadt ihre 103 Kilometer lange Hauptdeichlinie sukzessive erhöhen. Den Klütchenfelder Hauptdeich, der Wilhelmsburg vor dem Wasser aus dem Spreehafen schützen soll und der der Flut 1962 schon mal so folgenschwer nachgab, hat die Kommune schon ausgebaut. So wie hier soll es bald überall aussehen: 80 Zentimeter höhere Deiche – und 4,80 Meter breitere. Zum Ende des Jahrhunderts wird die Stadt sie sogar noch mal erhöhen müssen.
„Hier soll nicht nur Wohnraum, sondern eine ganze Idee zerstört werden!“– Bewohner*innen der Fährstraße 115
Ein paar 100 Meter von der Wassermarke entfernt steht Norika Rehfeld auf dem Reiherstieg-Hauptdeich, eine freundliche Frau mit grün gefärbten Haaren und St.-Pauli-Totenkopf auf dem Kapuzenpulli. Angst vor einem Deichbruch habe sie nicht, sagt die 36-Jährige. Obwohl sie direkt hinter dem grasbewachsenen Schutzwall wohnt. Aber wenn es doch mal passiert, weiß sie, was zu tun ist: Ab in den ersten Stock! So steht es im Notfallplan für das Gründerzeithaus in der Fährstraße 115, das mit seinem Orange mit der Februarsonne um die Wette strahlt. Norika Rehfeld hat dort ein Zimmer in einer Fünfer-WG. Sie musste sich in den vergangenen Monaten unfreiwillig intensiv mit dem Thema Hochwasserschutz beschäftigen. Den Titel „Deichprofi“ maßt sie sich zwar nicht an, aber eigentlich ist die Sozialpädagogin inzwischen einer.
Denn das Haus an der Fährstraße steht den Deicherweiterungsplänen der Stadt im Weg – sagt die Stadt. Hamburg will es aufkaufen, entmieten und abreißen, um das Gelände zum Deichschutzstreifen zu erklären. Um etwa sicherzustellen, dass dort niemand im Garten „unkontrollierte Abgrabungen“ durchführt. Für die Standsicherheit des Deiches sei das unerlässlich, sagt die Umweltbehörde. Ob deshalb das ganze Haus für den Hochwasserschutz wirklich weichen muss, darum ist ein erbitterter Streit entbrannt. „Es ist ein Hohn, hier soll nicht nur Wohnraum, sondern eine ganze Idee zerstört werden!“, schimpfen die Bewohner*innen der Fährstraße 115 auf ihrer Homepage.
Die „115“ ist ein Haus mit Charakter. Transparente, Sticker und Plakate an der Fassade mit dem typischen Gründerzeitdekor zeugen von den Einstellungen derer, die hier wohnen. Auf einem schwarzen Stück Stoff stehen „Ferhat“, „Gökhan“, „Hamza“ sowie die Namen aller weiteren Opfer des rassistischen Attentäters von Hanau. „Abriss verhindern“, prangt auf Weiß daneben. Mit einem Code öffnet Norika Rehfeld die Holztür. Die Fliesen im Eingangsbereich sind liebevoll verziert. An den pink gestrichenen Wänden im Treppenhaus hängen Plakate von Punkrockkonzerten, die hier im Keller stattfanden – vor der Pandemie. Man sieht sofort: Hier ist Leben in der Bude!
Der Gemeinschaftsraum ist eine große Wohnküche mit einem Kicker. „Das ist schon ein spezielles Haus“, sagt Rehfeld stolz, „ein wahnsinniger Freiraum.“ Seit 16 Jahren wohnen und werkeln hier 16 Menschen auf 447 Quadratmetern Wohnfläche an ihrer Utopie vom solidarischen Zusammenleben: Sozialarbeiter*innen, Handwerker*innen, ein Bauingenieur. Sie haben das Haus saniert, verwalten es selbst und leben in drei großen Wohngemeinschaften oder Einzelapartments; keiner für sich alleine. „Wir haben eine Politik der offenen Tür und sind eigentlich eine Riesen-WG.“ Das gefällt offenbar auch dem Vermieter: Konrad Grevenkamp berechnet gerade mal acht Euro pro Quadratmeter – aus Überzeugung.
Um ihr Wohnglück perfekt zu machen, wollten die Mieter*innen Grevenkamp das Haus sogar abkaufen. Nicht für sich selbst, sondern zur Bildung einer Gesellschaft über das sogenannte Mietshäuser Syndikat. Damit wäre sichergestellt, dass Gebäude und Grundstück niemals zur Spekulation benutzt werden können. Sie gründeten einen Verein und eine GmbH, sammelten Direktkredite ein, einigten sich mit dem Eigentümer: Weniger als eine Million Euro wollte Grevenkamp für das ganze Haus, ein Preis weit unter Marktwert. Ein Kaufvertrag war bald unterschrieben. „Unsere Vision war quasi schon Realität“, sagt Rehfeld. Bis die Stadt Hamburg ihnen im März 2020 reingrätschte – mit ihrem Vorkaufsrecht. „Das war der absolute, kollektive Schock.“
Wenn in Hamburg ein Grundstück die Besitzer*in wechselt, bekommt die Stadt die Gelegenheit, selbst zuzuschlagen. Für die Bewohner*innen der Fährstraße 115 begann mit der Entscheidung des Landesbetriebs für Immobilienmanagement und Grundvermögen zum Vorkauf eine endlose Plackerei: Sie gruben sich durch Deichordnungen, berieten sich mit Ingenieuren, schrieben Briefe an Senat und Bürgerschaft, trafen sich mit Staatsräten, reichten Widerspruch gegen Behördenentscheidungen ein. „Immens viel Arbeit“, sagt Norika Rehfeld und verzieht genervt das Gesicht.
Aber sie könnte sich lohnen, denn eigentlich geht es um noch viel mehr als um dieses eine Haus. Es geht schon jetzt auch um das Genossenschaftshaus auf der anderen Straßenseite und um viele, viele weitere Immobilien. Weil „höher“ bei Deichen eben immer auch „breiter“ heißt. Die Umweltbehörde warnt bereits: „Überall dort, wo Bestandsimmobilien unmittelbar an Deichen stehen, kann es daher im Rahmen von Erhöhungsmaßnahmen zu Konflikten kommen.“ Bestehende Immobilien müssen steigenden Fluten weichen. Scheint logisch. Aber ist das wirklich der einzige Weg?
„Unsere Vision war quasi schon Realität.“– Norika Rehfeld
Ausgerechnet für den Deichabschnitt an der Fährstraße 115 liegen seit 2011 alternative Pläne auf dem Tisch. „Eine Deicherweiterung muss (…) nicht zwangsläufig die Nutzung des angrenzenden Hinterlandes ausschließen“, heißt es in einer Machbarkeitsstudie, die im Rahmen der internationalen Bauausstellung IBA entstand. Der Vorschlag, den Landschaftsarchitekten, Stadtplaner und Ingenieur*innen damals ausgearbeitet hatten: den Deich durch eine höhere Schutzmauer ersetzen. Ein Konstrukt, das keinen Deichschutzstreifen brauchen würde. Für den Wilhelmsburger Reiherstieg-Hauptdeich hält die Umweltbehörde diese Idee jedoch für nicht umsetzbar. Sie prüfe aber immerhin Alternativen zum Abriss, heißt es, welche genau, sagt sie nicht.
Am Vorkaufsrecht hält die Stadt weiter fest. Die Bewohner*innen hoffen deshalb auf das Verwaltungsgericht, vor dem sie die Stadt verklagt haben. Bis dort eine Entscheidung fällt, könnten freilich Jahre vergehen.
Im Stadtteil haben Norika Rehfeld und ihre Leute viel Rückhalt: Gelbe Wimpel mit der Aufschrift „115 bleibt“ hängen überall in Fenstern. An die 4500 Menschen haben schon eine Petition zum Erhalt des Gebäudes unterzeichnet, trotz der kollektiven Erinnerung an die Katastrophe von 1962. „Niemand will den Hochwasserschutz gefährden, wir schon mal gar nicht“, sagt die Frau mit den grünen Haaren. „Wir glauben aber, dass es da einen Spielraum gibt.“