In der DDR musste niemand auf der Straße leben – stimmt das? Zum 30. Jahrestag des Mauerfalls gehen wir diesem Mythos auf den Grund. Wie Hinz&Künztler den Mauerfall erlebten, lesen Sie in unserer November-Ausgabe.
„Obdachlosigkeit? Gab es in der DDR nicht!“ Das ist eine verbreitete Annahme. Und dass es zumindest deutlich weniger Obdachlosigkeit als in Westdeutschland gab, ist tatsächlich unstrittig. Denn der Staat sorgte für günstige Mieten, Arbeit und teilte Wohnungen zu – ging aber auch mit massiver Repression gegen alle vor, die als „asozial“ galten.
„Wer obdachlos war, der wurde einfach weggesperrt“, erinnert sich Rotraud Kießling im Gespräch mit Hinz&Kunzt. Zu DDR-Zeiten war sie in der kirchlichen Sozialarbeit aktiv, heute für die Diakonie Dresden in der Wohnungsnotfallhilfe. Stark zugenommen habe die Kriminalisierung von Obdachlosigkeit in der DDR seit 1961, ordnet Christoph Lorke ein. Er ist Historiker und beschäftigt sich mit Armut in der DDR. Parallel zu dieser Kriminalisierung beginnt der Bau der Mauer, und die DDR-Führung orientiert sich immer stärker an den sowjetischen „Parasitenparagraphen“, ergänzt er.
Die Grundlage für die Strafverfolgung in der DDR lieferte §249 des Strafgesetzbuches: Der sogenannte „Asozialenparagraph“. Betteln, „Arbeitsscheue“, Prostitution oder die Beeinträchtigung der „öffentliche(n) Ordnung und Sicherheit durch eine asoziale Lebensweise“ – all das wurde mit Erziehungsaufsicht, Gefängnis oder Aufenthaltsbeschränkungen bestraft.
„Obdachlosigkeit fiel aus dem sozialistischen Ideal.“– Christoph Lorke – Historiker
„Obdachlosigkeit und damit assoziierte Eigenschaften fielen ganz einfach aus dem sozialistischen Ideal“, erläutert Lorke im Gespräch mit Hinz&Kunzt. Um Obdachlose aus dem Straßenbild zu verbannen, seien ihnen Unterkünfte staatlich zugewiesen worden – und zwar zwangsweise. Oft in heruntergekommenen Gründerzeitbauten mit Außentoiletten, etwa im Prenzlauer Berg. Also genau dort, wo Mieten heute kaum noch zu bezahlen sind. Für Jugendliche, die aus der Norm fielen, etwa weil sie nicht arbeiten wollten, gab es zudem Umerziehungslager, sogenannte „Jugendwerkhöfe“. In Betrieben existierten spezielle Brigaden für die sogenannten „Arbeitsbummler“. All das führte dazu, dass es Obdachlosigkeit zumindest in der späteren DDR faktisch nicht gab, weiß Lorke.
Durch die Wende wohnungslos
Mit dem Fall der Mauer hat sich das schlagartig geändert. Viele Ostdeutsche mussten etwa die Wohnungen, die sie von ihren Arbeitgebern gestellt bekommen hatten, verlassen. Andere waren überfordert mit bürokratischen Hürden und mit hohen Mietzahlungen.
Schätzungen zufolge gab es zwischen 1991 und 1992 in der DDR plötzlich etwa 200.000 Menschen ohne festen Wohnsitz, berichtet Lorke. Aber noch keine Struktur der Obdachlosenhilfe. Das bestätigt auch Sozialarbeiterin Kießling, die diese Strukturen dann mit aufgebaut hat: „Aus ‚Kriminellen‘ wurden plötzlich Anspruchsberechtigte, so konnten wir den Menschen endlich richtig helfen.“
In der Novemberausgabe
Viele gingen aber auch nach Westdeutschland und ließen alles zurück. Nicht wenige von ihnen wurden obdachlos. Genaue Zahlen gibt es auch hierfür nicht. In einem „Zeit“-Artikel aus dem November 1991 geht der damalige Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe aber davon aus, „daß inzwischen 20 bis 30 Prozent der Plätze in den westdeutschen Asylen mit ‚Ossis‘ belegt sind“.
Kurze Zeit später, 1993, wird Hinz&Kunzt gegründet. Auch weil Obdachlose auf Hamburgs Straßen immer sichtbarer wurden. Hinz&Kunzt-Sozialarbeiter Stephan Karrenbauer erinnert sich: „Ein großer Teil der Obdachlosen damals kam aus dem Osten. Viele von ihnen wollten sich hier ein neues Leben aufbauen und sind gescheitert.“