Bei manchen Menschen in Not denkt man: Die brauchen doch nur einen kleinen Stups, dann kommen sie wieder auf die Beine. Bei anderen würde man drauf wetten, dass sie es nie schaffen. So ein scheinbar hoffnungsloser Fall war Icke.
(aus Hinz&Kunzt 242/April 2013)
Es war an unserem allerersten Tag. Wir verkauften auf dem Gerhart-Hauptmann-Platz die allerersten druckfrischen Exemplare. Und da saß „Icke“ in Tarnhose und Unterhemd, auf einer Decke, völlig verdreckt. Er „frühstückte“ gerade – flüssig. „Ick kippte mir morgens immer erst mal ’ne halbe Flasche Schnaps rein, so wie sich andere morgens erst mal die Zähne putzen“, erzählt der Ostberliner uns später. An jenem Morgen pöbelte er uns erst mal an: Abhauen sollten wir, das sei sein Platz – und wir würden in seinem Wohnzimmer stehen. Ehrlich: Dass dieser aggressive Typ sich mal wieder berappeln würde, hätte keiner von uns geglaubt.
Nach ein paar Tagen wollte Icke dann doch bei uns mitmachen. Von einem Tag auf den anderen hörte er auf zu saufen. Gut gelaunt und strahlend war er auf einmal – und als er sich gewaschen und rasiert hatte, kam ein richtig gut aussehender Mann zum Vorschein. Kein Wunder, dass er Susi auffiel. Sie hatte den strahlenden Icke an seinem Verkaufsplatz gesehen und kaufte ihm eine Zeitung ab.
Aber Icke hatte Probleme damit, dass er plötzlich Erfolg hatte und ihn alle mochten. „Dass es mir mies ging, das kannte ich, damit kam ich klar“, sagt Icke. „Aber dass es mir gut ging, damit konnte ich gar nicht umgehen.“ Die Folge: Ein paar Wochen später sitzt er wieder auf einer stinkenden Decke auf dem Gerhart-Hauptmann-Platz – und säuft. Alles wie gehabt. Dort sieht Susi ihn wieder. Susi bleibt bei ihm stehen und die beiden kommen ins Gespräch, sofern man mit jemandem ins Gespräch kommen kann, der 3,8 Promille intus hat, also sternhagelvoll ist. Aber die überzeugte Christin lässt sich so schnell nicht abschrecken. Sie redet über ihren Glauben. „Ich bin auch gläubig“, hört Icke sich sagen. „Und das war ernst gemeint.“ Susi hakt nach: „Aber wenn man an Gott glaubt, muss man doch mit seiner Hilfe vom Alkohol loskommen.“
Leicht gesagt. Icke hatte es schon oft versucht, immer vergeblich. „Man hätte mich ohne einen Tropfen nach Sibirien schicken können, ich hätte immer was zu saufen gefunden“, sagt er. Schon zu DDR-Zeiten war er schwerer Alkoholiker, trank so lange und machte blau, bis er seinen Job als Heizer verlor. Zu DDR-Zeiten eine echte Leistung. Wenn er richtig gesoffen hatte, wurde er gewalttätig, zumindest wenn ihm jemand „blöd kam“. Im Knast war Icke früher auch schon gewesen. 1989 geht er dann in den Westen.
Susi besuchte Icke jeden Tag auf dem Gerhart-Hauptmann-Platz. Icke freute sich drauf – nicht nur aus religiösen Gründen. Er hatte sich in sie verliebt – und umgekehrt. Wegen Susi versucht er schließlich, das Leben nüchterner anzugehen.
Nie hätte er gedacht, dass dieser Moment kommen könnte, aber eines Tages, so sagt Icke, hatte er den Alkohol satt. Er wünscht sich ein Leben mit Susi. Ganz alleine, ohne ärztliche Betreuung, macht er auf dem Gerhart-Hauptmann-Platz einen kalten Entzug (was lebensgefährlich sein kann). Danach besucht er Susi. Und bleibt. „Wenn sie nur einen Ton gesagt hätte, wäre ich sofort gegangen“, sagt er. „Ihre Wohnung war ihr Territorium, wie meines der Gerhart-Hauptmann-Platz war.“
Inzwischen sind die beiden seit Jahren verheiratet, haben eine Familie gegründet. Und wir freuen uns immer wieder, wenn sie mal wieder vorbeikommen und uns besuchen.
Text: Birgit Müller