Wer wohnungslos ist und andere Probleme wie zum Beispiel Schulden hat, der hat auf dem Hamburger Wohnungsmarkt kaum eine Chance. Hilfe verspricht ein Projekt, das in Anlehnung an das Housing First Konzept arbeitet. Aber es gibt zu wenig Plätze.
Wann genau Yasins Leben aus den Fugen geriet, lässt sich schwer sagen. Vielleicht war es schon der Tag, als sein Vater entschied, mit dem damals 13-Jährigen nie wieder ein Wort zu wechseln. Warum, das wisse er bis heute nicht, erzählt Yasin auf dem Sofa in seiner Eimsbütteler Wohnung. Dass er vergangenes Jahr, mit 28, endlich erstmals ein eigenes Wohnzimmer hatte, an dessen Wände er Bilder von Skylines amerikanischer Großstädte hängen konnte, war für den ehemaligen Wohnungslosen lange nur ein Traum.
Als Jugendlicher hätte er jemanden gebraucht, der ihm den richtigen Weg zeigt, erzählt Yasin: „Ich habe zu wenig Aufmerksamkeit bekommen und habe mir dann meinen eigenen Weg gesucht.“ Fußball war ihm wichtiger als die Schule, zu der er irgendwann kaum mehr ging. Stattdessen zog es ihn zu seiner Freundin nach Kiel, bekam mit ihr ein Kind. Als ihre Beziehung zerbrach, versuchte er es noch einmal bei seinen Eltern. Aber dort da gab es ständig Streit: „Ich passe da nicht so richtig rein“, sagt er.
Wieso er sich damals keine eigene Wohnung gesucht hat, weiß er heute nicht mehr – es mag Überforderung gewesen sein. „Man sucht sich das nicht aus“, sagt Yasin. Stattdessen landete er in städtischen Gemeinschaftsunterkünften für Wohnungslose und schlief jahrelang bei Freunden auf der Couch. „Das ging irgendwann nicht mehr“, sagt er. „Ich wollte eine eigene Wohnung, aber mit hat die Energie dafür gefehlt.“
In Hamburgs öffentlichen Unterkünften leben 5274 Wohnungslose, die eine eigene Wohnung brauchen – teilweise jahrelang. Hinzu kommen 14.953 Geflüchtete und geschätzt mehr als 2000 Obdachlose auf der Straße. Gleichzeitig sinkt die Zahl der Sozialwohnungen trotz massivem Neubau immer weiter ab, denn gebaut wird in Hamburg am Bedarf von armen Menschen vorbei. Zumal auf diese Sozialwohnungen bei Weitem nicht nur Wohnungslose und Geflüchtete einen Anspruch haben, sondern auch Zehntausende Geringverdiener. Insgesamt 370.000 berechtigte Haushalte konkurrieren um weniger als 80.000 Sozialwohnungen.
Um vor der anstehenden Bürgerschaftswahl auf die Situation der sogenannten „vordringlich Wohnungssuchenden“ aufmerksam zu machen, hat ein Bündnis aus Diakonie, Caritas, Mieter helfen Mietern und Stattbau im September die Kampagne #einfachwohnen gestartet. „Es handelt sich längst nicht mehr um Einzelfälle, es ist ein Massenphänomen“, sagt Kampagnensprecher und Diakonie-Chef Dirk Ahrens, der auch Hinz&Kunzt-Herausgeber ist. Tatsächlich stieg die Zahl der vordringlich Wohnungssuchenden von 7857 im Jahr 2015 auf inzwischen 11.768.
Die Fachstellen für Wohnungsnotfälle, die sich in den Hamburger Bezirksämtern um die Vermittlung von Wohnraum kümmern, teilen sie in drei Stufen ein. In Stufe 2 fällt ein Wohnungssuchender laut Sozialbehörde, wenn er zwar „Einsicht in die eigenen Problemlagen“ hat, aber Hilfe dabei braucht, zum Beispiel seinen Schuldenberg zu reduzieren oder eine psychische Erkrankung in den Griff zu bekommen. In Stufe 3 fallen die Wohnungssuchenden, denen die Einsicht fehlt und die „nicht die Fähigkeit haben, eigenständig Schritte zur Problembewältigung zu unternehmen“, erklärt Sozialbehördensprecher Martin Helfrich. Wieviele von ihnen es gebe, darüber lägen keine belastbaren Zahlen vor.
Yasin war ein Wohnungssuchender der Stufe 3
Wem die Fachstelle also erst nach einem Jahr Betreuung zutraut, selbstständig in einer Wohnung zu leben, den klassifiziert sie als Wohnungssuchenden der Stufe 3. Als Yasin von einer Mitarbeiterin im Eimsbütteler Bezirksamt in diese Kategorie einsortiert wird, ändert sich für ihn alles: Endlich bekommt er die Hilfe, die er benötigt, um seine Probleme anzugehen und seine Wohnung zu finden.
150 Wohnungen sollen jedes Jahr an Stufe-3-Mieter in Hamburg vergeben werden. So hat es der Senat mit der Wohnungswirtschaft im Jahr 2006 in einem Kooperationsvertrag festgelegt. Die Bedingung: Die Stadt sorgt über einen Träger dafür, dass die Mieter ein Jahr lang betreut werden. Erst danach wird der Mietvertrag mit dem jeweiligen Wohnungsunternehmen geschlossen. Das gibt beiden Sicherheit: Den Mietern und den Vermietern. „Die Erfahrungen haben gezeigt, dass Menschen, die seit einem längeren Zeitraum nicht in einer eigenen Wohnung gewohnt haben, anfangs Unterstützung benötigen, damit ein langfristiges Mietverhältnis gesichert ist und die Integration in die Nachbarschaft gelingt“, sagt Gunnar Gläser, Sprecher des städtischen Wohnungsunternehmens Saga, und lobt die „hervorragende Arbeit der Träger“.
„Einige Mieter blühen wirklich auf und kommen zur Ruhe.“– Berater Maarten Thiele
Einer von insgesamt fünf dieser Träger ist die Lawaetz-wohnen&leben gGmbH mit Sitz im Schanzenviertel, die im Auftrag und mit finanzieller Unterstützung der Sozialbehörde arbeitet. Hier hat auch Maarten Thiele seinen Schreibtisch, der Betreuer von Yasin. Er erklärt, dass er „in Anlehnung an den Housing-First-Ansatz“ arbeitet. Das bedeutet: Erst einmal bekommen die Wohnungslosen eine Wohnung und dadurch hoffentlich wieder Stabilität in ihr Leben. Die wiederum soll Grundlage dafür sein, alle weiteren Probleme in Angriff nehmen zu können. Manche seien von der Wohnung anfangs überfordert, räumt Thiele ein: „Aber einige blühen wirklich auf und kommen zur Ruhe.“
„Meine Wohnung war der Grund dafür, dass sich mein Leben zum Besseren entwickelt hat.“– Yasin
So wie Yasin. Die Probleme des 29-Jährigen waren im Vergleich zu denen vieler anderer noch überschaubar, erzählt Thiele: „Es gibt auch Fälle, da geht es ein Jahr lang nur darum, die Wohnung einzurichten.“ Aber stolz auf Yasins Entwicklung ist er dennoch. Denn inzwischen hat der sein Leben wieder im Griff: Mit Hilfe der Schuldnerberatung etwa schrumpfte sein Schuldenberg von befürchteten 25.000 auf 7000 Euro. Alleine wäre er dort nie hingegangen, glaubt Yasin: „Man braucht einen, dem man vertrauen kann und der einem ein bisschen in den Arsch tritt.“
Bei Yasin ist das Stufe-3-Konzept voll aufgegangen. Allerdings klappt das nicht bei jedem: Von den angestrebten 150 Stufe-3-Mietern pro Jahr sind laut Behörde in den vergangenen Jahren nie mehr als 93 dauerhaft in die neue Wohnung eingezogen. Sprecher Martin Helfrich erklärt das so: Rechnerisch stünden jährlich nur für zwei Drittel der Beratenen direkt Wohnungen zur Verfügung. Das übrige Drittel seien noch Beratungsfälle. Zwar sei bereits eine Wohnung gefunden, der Vertrag aber noch nicht unterzeichnet.
#einfachwohnen
Yasin hat das erste Jahr in der eigenen Wohnung auch dafür genutzt, seinen Hauptschulabschluss an einer Abendschule nachzuholen. „Die Wohnung war sehr, sehr, sehr wichtig“, sagt er. „Sie war der ausschlaggebende Grund dafür, dass sich mein Leben zum Besseren entwickelt hat.“
Längst ist er regulärer Mieter bei der Saga, das eine Jahr Betreuung durch Lawaetz ist seit Mai vorüber. Und er hat inzwischen wieder große Ziele: Gerade nimmt er den Realschulabschluss in Angriff, vielleicht folgt darauf sogar das Abitur. „Ich bin ja kein dummer Mensch“, sagt er selbstbewusst. „Wenn ich mich konzentrieren kann, kriege ich das auch hin!“