Das Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe zeigt in einer Ausstellung, wie Street-Art die Proteste der arabischen Welt seit 2011 begleitet. Ein Besuch mit der Hamburger Künstlerin Hanadi Chawaf.
Eines Morgens saß Hanadi Chawaf auf einer Bank in Winterhude und beobachtete, wie ihre Wut und ihre Trauer von einer Hauswand gekratzt wurden. Es kratzte die Besitzerin eines Luftballongeschäfts, an dessen Wand Chawaf eines ihrer Werke geklebt hatte: ein Junge, der seinen großen Kopf in seine kleinen Hände stützte, eine Träne floss aus seinem Auge. So saß er unter der Werbung für Luftballons.
Es war das Jahr 2014 und das Bild des Jungen ihr Blick auf ihre Heimat Syrien, auf die gewaltsame Niederschlagung der Proteste und die Gewalt, die sie jeden Tag in den Nachrichten sah.
„Wie sollte ich schon rebellieren?“, fragt die 40-Jährige heute. Was, ausgerechnet von ihr, eine bemerkenswerte Frage ist, weil man die Geschichte ihres Lebens selbst als eine der Rebellion erzählen könnte. Doch damals fühlte sie sich vor allem hilflos und seltsam schuldig: weil sie hier lebte, die grausamen Bilder sah, aber nicht mit den anderen demonstrieren konnte.
Sie wollte, dass die Welt – ihre Welt, in der sie nun lebte, Hamburg, Europa, der Westen – hinsah: Wie das Regime in Syrien mit äußerster Brutalität auf die Protestierenden reagierte, wie es immer wieder zu Gewalt kam, auch gegen Kinder. So wurden im März 2011 in der Stadt Daraa mehrere Kinder festgenommen und misshandelt, weil sie ein Graffiti als Protest gegen Präsident Bashar Al-Assad gesprüht hatten. Graffiti, Street-Art generell, werden seit Beginn des Arabischen Frühlings in Ägypten und Tunesien zu einer wichtigen Ausdrucksform des Protests.
Und ja, vielleicht würden die Menschen in Hamburg für einen Moment an diese Kinder denken, wenn sie ihr Bild sehen und ihren eigenen Kindern einen Luftballon kaufen, dachte sie.
Ihre Serie „Weinende Kinder“ klebte Chawaf an all die Orte, an die sie kam, in Hamburg, in Frankfurt, in Paris, in Kopenhagen, manche in Los Angeles. Nicht nur ihr Protest, auch die Stationen ihres Lebens fanden auf den Fassaden zusammen. Die Erinnerungen an ihre Heimatstadt Damaskus, die sie mit 20 Jahren verließ, und die Orte ihrer Zukunft: die USA, das Land, in das sie auswanderte, in dem sie ihr Kunststudium begann. Und dann Hamburg, wo sie 2008 hinzog, mit ihrem Mann eine Familie gründete, eine Tochter bekam.
Einige Male tätowierte sie diese Motive auch. Als immer mehr junge Menschen aus Syrien nach ihrer Flucht in Hamburg ankamen, die Gefühle hinter ihrer Kunst verstanden und diese auf ihrer Haut verewigt haben wollten. Zum Beispiel Moaeed, der vor sechs Jahren den Weg in ihr Tattoostudio „Hanadis Garage“ fand und einen Jungen mit einer zerstörten Puppe im Arm auswählte. Heute sind die beiden gute Freunde. Für sie selbst, sagt Chawaf, seien ihre Werke „meine Therapie“.
Manchmal beobachtete sie auf der Straße auch Menschen, die vor ihren Bildern standen, dort Fotos machten und sich darüber unterhielten. Genau das mag sie an Street-Art, dass sie „für alle Leute ist, nicht nur für diejenigen, die in Museen gehen“.
Nun gut, jetzt steht sie gerade selbst in einem Museum, an diesem Mittwochnachmittag im Juni. Zum schwarzen Shirt trägt sie eine lockere, bunte Hose, die Tattoos auf ihren Armen liegen frei. Und natürlich ist die Tätowiererin und Street-Art-Künstlerin cool: ja, komplett lässig, wenn sie spricht, auch wenn es dabei um tiefe Gefühle geht.
Ihre Werke werden ein Jahr lang im Museum für Kunst und Gewerbe ausgestellt, der Titel der Ausstellung „Be With the Revolution“. 13 Künstler:innen werden hier vorgestellt, die sich in ihrer Kunst vor Ort oder aus dem Exil mit den Protesten der arabischen Welt auseinandergesetzt haben.
Bei der Eröffnung war Chawaf die einzige Künstlerin, die in dem schmalen Ausstellungsraum
anwesend sein konnte. Sie wohnt in Hamburg, die meisten anderen Künstler:innen leben und arbeiten im Ausland, in Ägypten, Tunesien, dem Libanon und den USA.
Man sehe das, findet sie, wenn man auf die unterschiedlichen Werke der Ausstellung blickt: Dass sie selbst hier in Deutschland war, während die anderen die Revolution und den Krieg erlebt hatten. „Sie haben den Tod gesehen“, sagt Chawaf.
Zum Beispiel das Bild, das über dem ihres weinenden Jungen hängt: Auf einer Hauswand ist ein Junge zu sehen, auch aus seinem Auge fließt eine Träne, in der Hand hält er ein gefülltes Fladenbrot. Es sieht sehr realistisch aus, die Farben sind grell, die Augen des Jungen weit aufgerissen. Er wirkt ganz nah, als käme er direkt aus dieser Wand, mitten in Kairo.
Der ägyptische Künstler Ammar Abo Bakr hatte den Straßenjungen dort verewigt. Er hatte seinen Bruder im November 2013 auf dem Tahrir-Platz in Kairo verloren, als dort mehr als 1000 Zivilist:innen nahe einer Moschee getötet wurden.
Oder die Werke von Bahia Shehab, auch sie lebt in Ägypten. „Ein vergessener blauer BH“ heißt eines ihrer Werke, ein anderes heißt „1000 Mal Nein“, darauf sind blaue BHs zwischen Verbotsschilder an eine Hauswand gesprüht. Am 17. Dezember 2011, während der ersten Proteste in Ägypten, nahmen Soldaten eine Frau fest, rissen ihr dabei das Kleid vom Körper und schleiften sie hinter sich her. Auf den Bildern dieser Szene zeigte sich ihr blauer BH, seither wurde er zu einem Symbol der Revolution.
In ihrer Kunst ist Chawaf eine „weibliche Sichtweise auf arabisch-westliche Lebensweisen“ wichtig, der Kampf um ein freies, selbstbestimmtes Leben war schließlich auch Teil ihrer eigenen Rebellion. Schon immer habe sie gewusst, dass sie Künstlerin werden wollte. In Syrien wurde sie jedoch zur Bauingenieurin ausgebildet, fühlte sich nicht frei, sondern eingeengt in einem korrupten System. Deshalb verließ sie vor den Protesten, vor dem Krieg, ihre Heimat. Sie erhielt ein Visum für die Vereinigten Staaten und sagte ihren Eltern, sie werde nur ein paar Monate dortbleiben, obwohl sie wusste, dass sie nicht zurückkehren wollte: in ein Land, in dem sie keine Zukunft für sich sah. Sie wollte ein Leben führen, das sie selbst für sich wählte.
In den USA ließ sie sich ihr erstes Tattoo stechen, eine Fledermaus, die sie an die Nächte in Damaskus erinnert. Weil man ihr dort immer gesagt hatte, sie käme in die Hölle, wenn sie sich tätowieren ließe, schrieb sie darunter noch die Worte: „straight to hell“.
Vor allem aber arbeitete Chawaf in den USA an ihrem Traum, Künstlerin zu werden. Sie bewarb sich am Maryland Institute College of Art, dreimal. Nicht weil sie nicht genommen worden wäre, einen Platz bot man ihr schon nach der ersten Bewerbung an. „Kostete nur leider 30.000 Dollar – pro Semester“, sagt Chawaf. Sie arbeitete in dieser Zeit als Kindermädchen, die Gebühr konnte sie sich nicht leisten. Ein Semester später bewarb sie sich noch mal, da bot das College ihr an, nur die Hälfte des Beitrags zu zahlen. Das war immer noch zu viel. Sie wartete noch ein Semester und bewarb sich erneut. „Da bin ich richtig ausgerastet, habe riesige Bilder gemalt – und dann ein Stipendium bekommen“, erzählt sie. Ab 2002 lebte sie in Los Angeles, beklebte Wände mit ihren Postern und begann, ihren eigenen Stil zu finden.
Nur eine der vielen Figuren, die Chawaf immer wieder zeichnet, klebt und tätowiert, hat übrigens einen Namen. Nuri heißt sie, eine weibliche Figur, die ein Kopftuch trägt, unter dem ein paar Haare hervorschauen. Im Museum findet man sie nun als Meerjungfrau. So klebte Chawaf sie 2016 auf Hamburger Fassaden. Nuri, die mit ihrem Fischkörper schwimmen kann und so der Gewalt entkommt. Und die gleichzeitig an all die Menschen erinnern soll, die es nicht konnten, die seither auf ihrer Flucht vor Krieg und Gewalt im Mittelmeer ertrunken sind.