Wie ein Traum

Seit 15 Jahren können Kinder und Jugendliche in der Zirkusschule Mignon Manegenluft schnuppern

(aus Hinz&Kunzt 170/April 2007)

Die 14-jährige Elisabeth Dauer schreitet in die Mitte der Eingangshalle. Früher war in der alten Villa in Iserbrook die Japanische Schule untergebracht. Wo früher vielleicht der Direktor Ansprachen hielt, hängt jetzt ein Ring an einem stabilen Seil von der Decke. Elisabeth greift mit beiden Händen zu, stößt sich vom Marmorboden ab, zieht sich hoch und schlingt ihre Beine um den Ring. Hängt kopfüber, schlängelt sich dann im Rhythmus der Musik nach oben.

„Trapez, das machen keine Mädchen, die Rosa tragen“, kommentiert Trainerin Simonn Kölliker. Jungs sowieso nicht. Die suchen sich schnell was anderes, wenn sie merken, wie am Trapez die Kniekehlen schmerzen. „Man muss dafür hart im Nehmen sein“, sagt Kölliker. Warum macht man das überhaupt? Die 30-Jährige guckt, als wäre ihr eine sehr dumme Frage gestellt worden: „Weil Zirkus einfach ein Traum ist.“

Die ganze Zirkusschule Mignon scheint einem Traum entsprungen zu sein. Wer von den langen Gängen in die Klassenzimmer guckt, bekommt einen Vorgeschmack: Im ersten mühen sich zwei Mädchen mit Einrädern ab. Im nächsten verrenken sich Schlangenmenschen. Im Zimmer fürs Zaubern ist gerade niemand, verlassen stehen die großen Kisten in Rot und Schwarz, bereit, eine Jungfrau aufzunehmen, die erdolcht werden soll. Im letzten Raum riecht es muffig: Bunte Kostüme aus 15 Jahren hängen an langen Stangen.

1992 hatte der Sonderpädagoge Martin Kliewer eine Idee: Ihm war aufgefallen, dass viele behinderte Kinder irgendwann keine Lust mehr haben auf Wahrnehmungs- und Bewegungsübungen. Er wollte die Übungen mit etwas Spannendem verbinden. Warum also nicht Zirkus machen, zusammen mit Nicht-Behinderten, als integratives Projekt? Die erste Truppe trommelte er in Nienstedten zusammen. Einmal pro Woche trafen sie sich, damals in einer Turnhalle. Der Zirkus wuchs. Und zog mehrfach um. In die ehemalige Elbschlossbrauerei, eine alte Kaserne in Osdorf, eine frühere Fabrikhalle in Wandsbek. „Wir wurden immer da untergebracht, wo die Stadt Platz hatte“, sagt Martin Kliewer. Jetzt die riesige Villa. Ein Luxus, mit dem es bald

wieder vorbei sein kann. Kündigungsfrist: 28 Tage. „Aber wir tun so, als blieben wir für immer drin.“

Das erste Zelt schwatzte Kliewer für 15.000 Mark einem anderen Zirkus ab. „Von Anfang an haben wir gesagt: Wir wollen richtig Zirkus machen, nicht mit einem aufgemalten Kreis als Manege. Also gehört ein Zelt dazu, genau wie auf Tournee zu gehen.“ Heute hat das Projekt mehr als 100 Schüler. Alter: zwischen neun und über 20. Sie sind Artisten, Techniker, Kostümbildner und Musiker. Außerdem Köche und Kellner – zum guten Zirkus gehört auch Gastronomie. „Was uns manchmal an Professionalität fehlt, machen wir mit Manpower, guter Laune und jugendlichem Leichtsinn wieder wett“, sagt Kliewer. Drei Ensembles bespielen den Circus Mignon, eins mit Kindern ab neun, eine Jugendgruppe ab zwölf und eine ab 16 Jahren. Pro Woche kommen sie zwei Stunden – wenn ein neues Programm vorbereitet wird, auch mal eine Woche am Stück in den Ferien. Wer weniger Zeit investieren will, kann Einzelkurse belegen.

Im Jonglage-Zimmer müht sich Caspar Krüger mit den Diabolos. Im vergangenen Jahr war der 17-Jährige noch Techniker, baute das Zelt auf und ab. Dann bekam er Lust, auch mal in der Manege zu stehen. Jetzt heißt es aufholen. Zusammen mit Lina Fischer und Gregor Pellacini arbeitet er eine Choreografie aus. Auch nach einer intensiven Probewoche gehen sich die drei nicht auf die Nerven – selbst wenn es mal nicht läuft. „Wo’s reibt, da wird’s warm“, kommentiert Gregor Pellacini.

Alles Training zielt auf einen Höhepunkt hin. Lina Fischer: „Das Allergeilste ist Sylt.“ Das Gastspiel auf der Insel ist der wichtigste Termin im Mignon-Kalender. Neben den Vorstellungen bietet der Zirkus dort Artistik-Kurse für die Urlauber an – geleitet von den eigenen Schülern.

Der „integrative Ansatz“, mit dem der Zirkus gestartet war, wurde irgendwann aus dem Selbstverständnis gestrichen. Wenn früher über den Zirkus berichtet wurde, stand im Vordergrund, wie viele Behinderte denn nun dabei waren. Einmal belauschte Kliewer zwei seiner Artisten. „Wer ist denn bei uns eigentlich behindert?“, fragte sich der eine. „Gut, Jens sitzt im Rollstuhl – aber richtig behindert ist er nicht“, antwortete der andere.

Natürlich arbeiten weiterhin Behinderte mit. Aber extra geredet wird darüber nicht. Drei Monate lang können sich angehende Artisten ausprobieren. Dann verpflichten sie sich für drei Jahre. „Aber aussteigen will sowieso niemand. Wer die Aufnahmeprüfung geschafft hat, ist stolz darauf, dazuzugehören“, so Martin Kliewer.

Der Zirkus finanziert sich durch Veranstaltungen, Kurse, Gastronomie und die Gebühren der Schüler – 40 Euro pro Monat. „Natürlich werfen wir niemanden aus dem Ensemble, wenn sich die Eltern den Beitrag nicht mehr leisten können“, betont Kliewer. 20.000 Euro brachte im vergangenen Jahr außerdem der Hamburger Kinder- und Jugendkulturpreis ein.

Martin Kliewer erklärt sich den Erfolg so: „Für Jugendliche ist die Welt, in die sie kommen, fix und fertig. Zirkus dagegen ist eine Welt, die man zusammen mit anderen gestalten kann, mit anderen Gesetzen als draußen.“ Zum Beispiel Geld: „Auf längeren Tourneen bekommt jeder Artist eine Gage, die Älteren 20, die Jüngeren zehn Euro pro Woche.“ Am Zahltag händigt Kliewer das Geld persönlich aus. „In der Reihe stellen sich 13-Jährige genauso an wie 22-Jährige – für die 20 Euro sonst gar nichts wären.“ Wer zu spät zur Vorstellung kommt oder sein Kostüm nicht in Ordnung hält, muss 50 Cent Strafe zahlen. Kliewer: „Außerhalb des Zirkus wird ein 16-Jähriger wohl nie so intensiv darüber diskutieren, ob er 50 Cent nun zahlen muss oder nicht.“

Elisabeth ist mittlerweile vom Trapez heruntergestiegen. Bis jede Bewegung spielerisch leicht aussieht, wird sie sich noch unzählige Male unter die Hallendach schwingen. Seit sechs Jahren kommt sie in die Zirkusschule. „Hier bin ich kreativer, offener“, sagt sie, „in der normalen Schule fühle ich mich wie eingeklemmt.“

In ihrem Kopf nimmt der Auftritt immer weiter Gestalt an. Vielleicht könnte es Glitter aus der Zirkuskuppel regnen. Im Hintergrund könnten Tänzer den Rhythmus der Musik aufnehmen. Und ein weites, luftiges Kostüm will sie tragen. Wird das nicht schwierig, die bequemen Sportklamotten gegen etwas einzutauschen, mit dem man überall hängen bleiben kann? „Im Gegenteil, das macht es einfacher, sich in die Rolle zu finden.“ Und ganz in die Traumwelt Zirkus einzutauchen.

Marc-André Rüssau

http://www.circus-mignon.de/

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