Im Bramfelder Wichelkamp gibt’s weit und breit kein’ Tüdelkram. Dafür leben dort Familien, die über Generationen hinweg ihrer kleinen Straße treu geblieben sind und gute Nachbarschaft pflegen. Doch geht es nach der Stadt, ist die Idylle in Gefahr.
(aus Hinz&Kunzt 257/Juli 2014)
Was macht Heimat aus? „Da hat man seine Wurzeln“, sagt Rolf Penning. Der 75-Jährige ist im Wichelkamp in Bramfeld groß geworden, genauso wie sein Nachbar Gernot Tieck, dessen Großmutter das Haus für die Familie baute. Mit den Geschwistern Günther und Erika Seng von gegenüber teilen sie Erinnerungen an eine freie, aufregende Kindheit mitten im Krieg, an Kibbel-Kabbel und Glitschen auf der zugefrorenen Straße, an wilde Spiele und an Rudi Lorbeer, den Schrecken der Nachbarskinder.
Sie kennen jeden Winkel im grünen Dreieck zwischen Otto-Versand, Bundeswehrkrankenhaus und Techniker-Krankenkasse – genauso wie ihre Kinder und Enkel, die ebenfalls im Wichelkamp aufwuchsen und nun mit eigenen Familien hier leben. Noch ist der Wichelkamp eine Straße ohne Bürgersteig, Befestigungen und anderem Tüdelkram, den hier keiner braucht. Ab 2015 sollen die Straßen des Quartiers „endgefertigt“ werden, mit Asphaltdecken, Parkbuchten und Plattenwegen. Dann wird die Siedlung ihren ländlichen Charakter verlieren, fürchten die Anwohner und halten gegen die Pläne zusammen, denn nur wenige haben dafür mal eben bis zu 15.000 Euro übrig. So viel sollen sie pro Grundstück für die Straßensanierung beisteuern. Das können die meisten, die hier leben, nicht zahlen. Und dann? Im Wichelkamp haben sie ihre Wurzeln, ihre Heimat.
Die Pennings
Wenn Rolf Penning wollte, dann könnte er heute noch Schweine halten, im Stall am Haus. Die verblichene Genehmigung von 1948 hat der 75-Jährige noch, sorgfältig in einem Ordner abgeheftet wie alles andere, was sein Leben im Wichelkamp betrifft. Die Genehmigung hatte damals sein Vater bekommen. Der hat das Haus gebaut, in dem Rolf Penning mit seiner Frau Heidi heute lebt. „Die Genehmigung ist nie widerrufen worden“, grient der Mann mit der Bauernstatur. Damals hätten sie die Ferkel auf dem Fischmarkt gekauft und mit der U-Bahn nach Hause gebracht, „die steckten einfach im Sack“. Der Vater, Landwirt aus Mecklenburg, war streng: „Wenn er pfiff, standen wir bei Fuß.“ Hühner, Kaninchen, Gänse, Schafe und Schweine hielten sie auch in der Stadt. Doch es gab nicht nur Arbeit und Schule. Gespielt haben sie damals wilde Spiele, mit Gummiknüppeln aus Kabeln, mit denen man die Jungs aus den anderen Straßen verhaute, wenn man sie erwischte. Angst hatten sie nur vor dem wilden Rudi Lorbeer und seinem Hund, der sie schon mal an den Lichtmast fesselte, wenn er sie erwischte.
Als Erwachsener zog Rolf Penning mal weg aus dem Wichelkamp, doch 1967 kam er zurück ins Elternhaus und war froh, wieder zu Hause zu sein. Mit den Eltern im gleichen Haus zu wohnen, „das ging gut“, erzählt er, „wir konnten uns gut in Ruhe lassen“. Die Kinder der Familie sind hier groß geworden, heute wohnt der Sohn gegenüber. „Der Wichelkamp ist Heimat“, sagt Rolf Penning bestimmt. „Hier ist es richtig selbst gebaut.“
Die Tiecks
Flaschen mit Jauche aus den Abwassergräben zu füllen und bei Nachbarn, „die man nicht so gern mochte“, auf die Türklinke zu stellen, das gehörte zu den harmloseren Streichen der Jungs im Wichelkamp, erinnert sich Gernot Tieck. Auch der Schlachter hatte was auszustehen, „der kam ein Mal in der Woche mit seinem Tempo-Dreirad und hat uns um den Block mitgenommen“, erzählt der 75-Jährige vergnügt. Dabei hätte er die Bengels besser nicht allein im Auto gelassen: „Wir haben da so rumgefummelt und plötzlich lag der Wagen im Graben!“
Bei Kriegskind Gernot Tieck überwiegt trotz Evakuierung und Ausbombung die Erinnerung an eine meist fröhliche, aufregende Kinderzeit. Als sein Elternhaus einen Bombentreffer hatte, wurde die Familie auf die Nachbarschaft verteilt. Später zogen sie in eine Leihbude um, eine einfache Holzhütte, von den Finnen gespendet. Kriegsgefangene aus Frankreich und Italien bauten das Haus der Großmutter ab 1944 wieder auf. 1965 lernte Gernot Ilka von der Elbchaussee – „nicht dem feinen Blankenese“ – kennen und zog zu ihr. Doch als im Wichelkamp ein Haus zum Verkauf stand, wollte er zurück. Mit den Nachbarn feierte man Feste, die Kinder wuchsen gemeinsam auf, und nun ist mit dem Enkel die fünfte Generation im Wichelkamp am Start. Die Tochter lebt mit Familie in dem Haus, das die Oma einst baute. „Das ist eine gute Nachbarschaft hier“, findet Gernot Tieck. Wegziehen kann er sich nicht vorstellen.
Die Sengs
Das Haus der Sengs ist „wie ein Fuchsbau“, findet Günther Seng (71). Mit seinen An- und Umbauten bietet es der ganzen Großfamilie Platz: Günther, mittlerweile verwitwet, teilt sich das Haus mit seiner Schwester Erika und ihrem Mann. Günthers Sohn Andreas (48) lebt im ersten Stock mit seiner Frau Desirée und den drei Kindern Luca (11), Max (5) und Isabella (3). Ans Ausziehen denkt keiner von ihnen, die Generationen vertragen sich gut. Erika (75) hat ihr ganzes Leben in dem Haus verbracht, das ihr Vater 1936 als 2,5-Zimmer-Haus baute, und sie hat wohl in fast jedem Zimmer schon mal gewohnt. „Als sie drei war, haben die Tieck-Jungs sie mal in den Graben geworfen“, erzählt Günther. Gute Nachbarn wurden sie später trotzdem.
Mit seiner Clique streifte Andreas in den 70er-Jahren durch die Straßen und „führte die Tradition der Konfliktpflege fort“, grient er. Gemeinsam führte man erbittert Krieg gegen die Jungs von der anderen Seite der Bramfelder Chaussee. „Das waren unsere Feinde“, erzählt er vergnügt, und man rückte sich mit Pfeil und Bogen, mit Speeren und sogar Wackersteinen auf die Pelle. „Heute machen die Kinder nicht mehr so viel Blödsinn“, meint er. Sein Sohn Max wohnt trotzdem gern hier, sagt er. Warum? „Opa ist toll!“
Die Köthkes
Bei Fred und Heidi Köthke liegt die vierte Wichelkamp-Generation zufrieden glucksend auf dem Teppich. Felix ist ein halbes Jahr alt und findet es prima bei den Großeltern. Für Tochter Nina (33) ist es ein kurzer Weg, sie wohnt mit ihrer Familie schräg gegenüber. Nachbarschaft wird hier großgeschrieben. In den Kindertagen entstanden Freundschaften, mit einigen fährt man immer noch zusammen in Urlaub, „aber man guckt sich nicht in die Töpfe“.Als Fred (73) und sein fünf Jahre älterer Bruder Dieter Kinder waren, spielte sich das Leben auf der Straße ab. „Aus alten Kinderwagen und stinkenden Fischkisten haben wir Seifenkistenautos gebaut und sind Rennen gefahren“, erinnert sich Fred Köthke. Von den Bandenkriegen mit benachbarten Straßen mag er nicht so gern erzählen. „Ich war noch zu klein, da hab ich nicht mitgemacht“, will er sich rausreden. Ehefrau Heidi und Tochter Nina schmunzeln. Da erzählt er doch von Scharmützeln mit selbst gebauten Flitzbögen und Pfeilen, von Knallkörpern, die sie aus Düngerchemikalien und Löschpapier bauten. Wilde Spiele hat Nina in ihrer Kindheit nicht gespielt. Klar sind sie, wie schon die Eltern, über Abwassergräben gesprungen, bis einer drinlag, haben mit Kreide auf der Straße gemalt und mit der Spielzeug-Polizeikelle Autos angehalten, um Wegezoll zu kassieren. „Fürs Eis hat’s gereicht“, sagt sie lachend. Ihr Taschengeld tragen die Kinder heute noch in dieselbe Eisdiele, nur der Besitzer hat gewechselt. Für Nina war ihre behütete Kindheit selbstverständlich, sie möchte, dass ihr Sohn Felix genauso frei aufwachsen kann. „Das ist eine schöne Ecke, nicht nur für Kinder“, findet sie.
Die Starks
Helmut (88) und Ingeborg Stark (85) sind froh, dass ihr Enkel Jan mit seiner Familie ihr Haus im Wichelkamp übernommen hat, als sie vor einigen Jahren in eine nahe gelegene Seniorenresidenz umzogen. 1933 kaufte Helmut Starks Vater das Grundstück, zeitweise lebten vier Generationen der Starks unter einem Dach. Ein wenig wehmütig erinnert Helmut Stark sich daran, dass früher noch der Milchmann kam und die Kinder die Milch mit Milchkannen holten. „Bezahlt wurde am Wochenende, da trafen sich alle und es gab Bonbons für die Kinder“, erzählt er. Im Krieg sei das Gelände der nahe gelegenen Gärtnerei intensiv bebombt worden, „das haben die Engländer wegen der Glasdächer wohl mit der Fabrik am Barmbeker Bahnhof verwechselt.“
Einen direkten Bombentreffer hatten Starks nicht, aber „meine Mutter lag oben im Bett und plötzlich war das Dach weg“, sagt er trocken. Mit der großen Pappel zwischen Wiedehopfstieg und Ilenkruut hat Helmuts Vater der Familie im Wichelkamp ein Denkmal gesetzt. „Während der Verdunklung im Krieg ist mal eine Frau in den Graben gestürzt und hat sich das Bein gebrochen. Da hat mein Vater die Pappel gepflanzt“ – sie steht heute noch.Seit 63 Jahren kennen sich Helmut und Ingeborg schon, 1951 heirateten sie, die beiden Kinder Cornelia (62) und Joachim (57) wuchsen im Wichelkamp auf. „Unten wohnten Uropa und die Großeltern, oben meine Eltern, mein Bruder und ich“, erzählt Cornelia. „Wir haben immer bei Oma in die Töpfe geguckt, die konnte gut kochen“, meist selbst Angebautes aus dem Garten. Cornelia war die erste Konfirmandin in der nahe gelegenen Thomaskirche, wirft Ingeborg ein. Schön sei es damals gewesen, sind sich alle einig.
Die Büchlers
An der Pappel, die Helmut Starks Vater im Krieg pflanzte, schaukeln heute die beiden vier und acht Jahre alten Söhne von Nicole Büchler. Vor vier Jahren ist die Flugbegleiterin mit ihrem Mann Jannik aus Hamm hierher gezogen und genießt das ländliche Leben mitten in der Stadt. „14 Kinder leben allein in unserem kleinen Abschnitt der Straße“, freut sie sich. Zu Anfang hatten sie Bedenken, dass hier nur alte Griesgrame wohnen könnten, „aber die Nachbarschaft ist toll und hilfsbereit!“ Als sie am Wochenende im Vorgarten waren, seien nach und nach Nachbarn am Gartenzaum zum Klönschnack aufgetaucht. Einer holte eine Bierbank, ihr Mann brachte Getränke für alle, erzählt sie strahlend. Sorgen machen ihr nur die Kleingärtner von nebenan, die mit 80, 90 Sachen durch den Wichelkamp brausen, trotz der spielenden Kinder auf der Straße. „Eine Spielstraße wäre gut“, findet die 38-Jährige. Deshalb engagiert sie sich mit den anderen Anwohnern bei der Bürgerbeteiligung zum Ausbau der Straße. Auch für sie, die Neubürgerin im Wichelkamp, könnte am besten alles so bleiben, wie es ist, deswegen sind die Büchlers ja hergezogen. Einen Apfelbaum haben sie im Garten gepflanzt und zum ersten Mal gesagt, „hier wollen wir gern in 40, 50 Jahren noch sitzen“, auf der Rundbank, die sie um den Baum bauen werden, wenn er groß genug ist. Dann schaukeln vielleicht ihre Enkel an der Pappel.
Text: Misha Leuschen
Foto: Dmitrij Leltschuk