Flüchtlingsunterkünfte : Wenn nicht hier, wo dann?

Die Hilfsbereitschaft für die Flüchtlinge war überwältigend. Doch jetzt, wo es darum geht, neue Wohnungen für diese Menschen zu bauen, wehren sich Bürger gegen Wohnsiedlungen in ihrer Nachbarschaft. Und wenn die Stadt nachgibt, schafft sie es nicht, genügend Wohnungen zu bauen. Ein Dilemma.

Die Aula der Anna-Warburg-Schule in Niendorf ist gut gefüllt. Rund 250 Bürger sind an diesem Dezemberabend gekommen. Die Stadt hat zur „Informationsveranstaltung“ geladen, weil sie hier im Stadtteil zusätzliche Holzblockhäuser und Wohncontainer für 1800 Flüchtlinge errichten wird. Der neue Flüchtlingskoordinator steht Rede und Antwort, ebenso der Bezirksamtsleiter und auch Vertreter des Roten Kreuzes, die die Flüchtlinge betreuen. Die Krisenmanager haben dazugelernt: An ihrer Seite steht die Pastorin und ermuntert die Bürger mit gewinnendem Lächeln zu „guten Begegnungen in einer Situation, die nicht gut ist“. Immer wieder danken die Vertreter der Stadt den vielen Ehrenamtlichen, ohne die es auch in Niendorf nicht gehen würde. Bitten um Unterstützung. Versuchen Ängste zu nehmen. Lassen Listen herumgehen, um Besorgte zu weiteren Treffen einzuladen. Die Männer von der Stadt versichern, dass sie „Anregungen mitnehmen“ wollen. Und doch zeigt sich auch an diesem Abend, mit welch heißer Nadel die Behörden derzeit die Zukunft Hamburgs stricken und was sie noch lernen müssen im Umgang mit ihren Bürgern. „Wird es neue Lehrer geben?“, fragt eine junge Frau. Der Koordinator weiß es nicht. Er sagt, darüber mache sich die Schulbehörde Gedanken. Dass er nachfragen werde. Und dass die Antwort im Internet nachzulesen sein wird.

Noch halten die Niendorfer still. Anderswo hat sich Widerstand formiert. „Es geht hier nicht um Ausländerfeindlichkeit“, sagt Volker Jahnke von der Bürgerinitiative Neugraben-Fischbek. „Es geht darum, dass wir keine Gettos wollen.“ 27.500 Menschen leben in seinem Stadtteil, rund 5000 Flüchtlinge sollen bald hinzukommen. „Das kann nicht gut gehen.“ Die Neugrabener wissen, worüber sie sprechen, sagt der 52-Jährige. Ein sehr guter Freund von ihm sei gläubiger Moslem. Andere stammen aus Spanien, Griechenland, Norwegen oder Pakistan. „Wir integrieren hier seit 50 Jahren Menschen“, sagt Jahnke. „Das war manchmal problematisch. Aber immer lösbar. Weil es kleine Mengen waren.“

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„Es geht darum, dass wir keine Gettos wollen“, sagen die Neugrabener Norbert Höbelt (links) und Volker Jahnke. 1500 Flüchtlinge würden sie hier am Stadtrand integrieren – aber nicht 5000.

Es sind gewaltige Projekte, die der Senat im Eilverfahren durchzieht. In jedem der sieben Bezirke Hamburgs soll bis Jahresende ein Wohnquartier für 4000 Flüchtlinge gebaut werden – und lösen bei Anwohnern die Angst vor Überforderung aus. Es gebe keine Wahl, sagt der Senat. Und hat er nicht Recht? Im Dezember schliefen immer noch rund 750 Flüchtlinge in Zelten. Der Winter ist noch lang. Und bis auf Weiteres rechnen die Behörden damit, Monat für Monat 3000 neue Menschen unterbringen zu müssen. Aufs Jahr gesehen wären das 36.000 Flüchtlinge, die in Hamburg einen Ort zum Leben benötigen. „Wir müssen aus dieser Spirale von Zelten, Baumärkten und Lagerhallen raus“, sagt SPD-Fraktionsführer Andreas Dressel stellvertretend für den Senat. „Und dass sich jeder Stadtteil die Zahl der Flüchtlinge aussuchen kann, wird nicht funktionieren.“

In Rissen schütteln sie über diese Argumentation nur die Köpfe. „Eindimensional“, sagt Klaus Schomacker. Der 61-Jährige ist bei den Jungsozialisten groß geworden, war inter nationaler Vertriebsleiter für ein großes Unternehmen und gleichzeitig Betriebsrat. Nun ist er der Stratege der Bürgerinitiative „Vorrang für Integration und Nachhaltigkeit Rissen“ , verlangt „maximale Dezentralisierung“ bei der Unterbringung der Flüchtlinge und gute Integration. „Das kostet viel mehr Geld. Aber das fordern wir jetzt einfach.“

Nicht weit von Schomackers Eigenheim entfernt will der Senat 800 Wohnungen für Flüchtlinge errichten. Gegenüber der Baufläche hat der Rissener Sportverein seine Heimat. Tennis und Hockey spielt man hier. Etwas weiter die Straße hinunter liegen verstreut viele alte, aber auch neue Einfamilienhäuser. Dass in dieser beschaulichen Gegend eines Tages die Bagger rollen würden, steht schon lange fest. Bereits 2004 beschäftigten sich Gutachter mit dem Gebiet. Die Fläche hat allerdings einen Haken: Weil der Boden verseucht ist, wird die Erschließung teuer. Wohl auch deswegen liegt die Fläche immer noch brach. Für die vom Senat anvisierten 800 Wohneinheiten für Flüchtlinge hingegen ließ sich mit dem Bauunternehmen Otto Wulff zügig ein Interessent finden.

Doch die Rissener Bürgerinitiative stellt sich quer. Ihr Gegenvorschlag: Weiterhin sollen 230 Wohnungen entstehen. Ein Drittel davon wird belegt mit Flüchtlingen. „Das finde ich schon ziemlich mutig“, sagt Schomacker. Und es geht ihm und seinen Mitstreitern nicht nur um den zusätzlichen Autoverkehr, den sie fürchten. Nein, sie denken auch darüber nach, was aus den Menschen werden soll, wenn sie ihre neuen Nachbarn sind: „70 Prozent sind junge Leute. Das ist eine Hammer-Aufgabe, die gelöst werden muss. Und eigentlich müsste jeder junge Flüchtling einen deutschen Paten haben.“

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Der Rissener Klaus Schomacker findet 75 Wohnungen für Flüchtlinge in seiner Nachbarschaft „mutig“. Zumal die Unterkunft nebenan auf 750 Plätze erweitert wird.

Und die Rissener Akademiker stellen wichtige Fragen: Warum werden die geschätzt 5000 leer stehenden Wohnungen in der Stadt nicht genutzt? Und warum führt der Senat nicht sofort statt des bei größeren Bauprojekten inzwischen üblichen Drittel-Mixes einen Viertel-Mix ein: Ein Viertel Eigentumswohnungen, ein Viertel frei finanzierte Wohnungen, ein Viertel Sozialwohnungen und das letzte Viertel für Flüchtlinge? 6500 Wohnungen sind derzeit in Hamburg im Bau, sagt Schomacker. „Schon mit denen könnte man anfangen!“

Die zuständige Stadtentwicklungssenatorin Dorothee Stapelfeldt (SPD) entgegnet auf Hinz&Kunzt-Nachfrage: „Den Anteil der geförderten Wohnungen zu ändern, ist bei laufenden Bauprojekten nicht ohne Weiteres möglich, weil die Bauherren bereits Baurecht haben oder entsprechende Verträge geschlossen sind.“ Hamburg fördere zehnmal so viele Sozialwohnungen wie der Bundesdurchschnitt. Und: „Auch zukünftig ist eine Abkehr vom Drittelmix nicht zielführend, weil gerade die richtige Mischung von gefördertem und frei finanziertem Wohnungsbau entscheidend ist, um Investoren für den geförderten Wohnungsbau zu gewinnen.“ Eine Nutzung der zahlreichen Leerstände wiederum scheitere in der Regel am mangelnden Brandschutz, an dem zeitaufwändigen Umbau oder den zu hohen Kosten, heißt es aus der behördlichen Koordinierungsstelle für Flüchtlinge.

In Rissen ist daher nicht mit einer Einigung zu rechnen. Einen Befriedungsversuch des Bezirks – 600 neue Wohnungen, davon 400 für Flüchtlinge – lehnt die Bürgerinitiative ab. Das Geld für den mindestens 30.000 Euro teuren Rechtsstreit mit der Stadt wird schon gesammelt, ein Bündnis mit anderen Initiativen geschmiedet, um die Schlagkraft zu erhöhen. „Wir müssen die Hamburger bei diesem Thema wachküssen“, sagt Klaus Schomacker. Gelingt ihnen das, kann er sich auch ein Volksbegehren vorstellen, um den Senat zu einer anderen Politik zu zwingen.

In Klein Borstel, Lokstedt und Lemsahl-Mellingstedt haben Anwohner inzwischen vor Gericht einen Baustopp erwirkt. Sollten weitere Bürger erfolgreich klagen, könnte aus dem Expressbauprogramm schnell ein Rohrkrepierer werden. Der Senat hat reagiert und mehrfach das Baurecht ver ändert. Dennoch ist der Ausgang der Prozesse ungewiss.

Gerne würde man in Rissen von einer Klage absehen, sagt Klaus Schomacker. Es gebe 104 Stadtteile in Hamburg. Warum also werde die Last der Integration auf wenige Quartiere verteilt? Für einen Stadtstaat sei es schwer, Flächen zu finden, heißt es aus der Stadtentwicklungsbehörde. 100 mögliche Standorte für den Wohnungsbau würden derzeit geprüft. Neben einer schnellen Umsetzbarkeit müssten auch Nahversorgung und Verkehrsanbindung sichergestellt sein.

Bei den geplanten Großbauprojekten habe man diese Aspekte berücksichtigt, sagt Ingrid Breckner. Die Professorin für Stadt- und Regionalsoziologie an der Hafencity Universität unterstützt die Senatspläne. Schließlich würden mit einem Schlag dringend benötigte Sozialwohnungen gebaut. „Und das mit einer Bindung von 30 Jahren.“ Außerdem wolle die Stadt nur in einer ersten Phase die Wohnungen ausschließlich mit Flüchtlingen belegen. Später sollen die Siedlungen auch Hamburger Geringverdienern offenstehen. Bei einer Tagung zur „Stadt des Ankommens“ zeigte sich Ingrid Breckner daher zuversichtlich, dass eine Einigung mit den Initiativen möglich ist.

Man habe in allen Bezirken Informationsveranstaltungen durchgeführt, sagt Senatorin Stapelfeldt zu Vorwürfen, die Bürger würden nicht ausreichend informiert. „Und natürlich werden wir weiterhin den Dialog suchen. Entscheidend ist aber, dass wir diese Wohnungen brauchen, um Obdachlosigkeit zu vermeiden.“

Die Neugrabener Bürgerinitiative hat dem Senat Mitte Dezember einen schriftlichen Vorschlag unterbreitet. Darin erklärt sie sich bereit, in ihrem Stadtteil „1500 Flüchtlinge in Folgeunterbringungen zu beherbergen und die Integrationsarbeit aktiv zu unterstützen“. Heimlich haben sie ja schon lange den Flüchtlingen in ihrer Nachbarschaft geholfen, darüber aber aus strategischen Gründen nicht groß geredet. Sozialsenatorin Melanie Leonhard (SPD) stellt allerdings klar: „Wir können auf diese Plätze nicht verzichten.“ Es könnte ein langes Tauziehen werden – zulasten der Flüchtlinge.

Text: Ulrich Jonas/Jonas Füllner
Fotos: Mauricio Bustamante

Mehr Infos im Internet: www.binf-online.de, www.vin-rissen.de und www.hamburg.de/fluechtlinge