Jahrzehntelang haben sich die Hamburger Museen nicht darum gekümmert, von wem viele Kunstwerke stammen, die sie in der NS-Zeit billig erwarben. Jetzt beschäftigen sich viele Museen systematisch mit der Raubkunst. Auch das Museum für Kunst und Gewerbe.
(aus Hinz&Kunzt 260/Oktober 2014)
Die Menschen hinter den Sammlungen haben sie immer schon am meisten fasziniert, sagt Kuratorin Silke Reuther. Deswegen begibt sich die promovierte Kunsthistorikerin immer wieder mit Leidenschaft auf Spurensuche: Woher kommen beispielsweise dieser Barockstuhl und die kleine Marien-Statue, vor denen wir gerade stehen? Und sind sie auf rechtmäßigem Wege hierher ins Museum für Kunst und Gewerbe gekommen? Wurden sie ihren Eigentümern in der Nazizeit weggenommen oder unter Druck zu Dumpingpreisen verkauft?
„Raubkunst“ ist das Thema der aktuellen Ausstellung, und Provenienzforschung nennt man diese Detektivarbeit. Viele Museen leisten sich inzwischen die Frage nach der Vergangenheit ihrer Kunstwerke, „trotz der großen Angst, dass dann vieles verloren geht“, sagt Silke Reuther. Aber, und das ist auch die Maxime des Hauses: „Es soll nichts im Museum bleiben, das nicht uns gehört.“
Silke Reuther sieht das sowieso entspannt: „Wir bekommen Geschichten zu den Objekten!“ Und da werden dann selbst dieser relativ unspektakuläre Barockstuhl und die kleine Marien-Statue interessant. Die gehörten einmal dem jüdischen Kunstsammler Carl von Weinberg aus Frankfurt. 1938 war er ge- zwungen, seine Villa und seinen Kunstbesitz für geringes Geld an die Stadt Frankfurt zu verkaufen. Die Sammlung wurde dann auf die gesamte Frankfur- ter Museumslandschaft aufgeteilt. 1945 machten sich die Alliierten auf die Su- che nach geraubten Kunstwerken. In Wiesbaden gab es eine Auffangstelle, von der aus wurden die Bilder und Objekte an die Eigentümer oder ihre Erben zurückgegeben.
Auch der Barockstuhl und die kleine Marien-Statue wurden zurückerstattet – nicht an Weinberg, der 1943 im italienischen Exil gestorben war, sondern an seinen Schwiegersohn. „Der entschied sich gegen die Sammlung und verkaufte sie“, sagt Silke Reuther. Die Herkunft der Stücke ist also geklärt. Interessant findet die Wissenschaftlerin aber etwas anderes: Warum interessierte sich ein jüdischer Sammler für christliche Kunst?„Die Weinbergs sind schon sehr früh konvertiert und zählten zu den assimilierten Juden“, so Reuther. Die Familie habe „Unendliches für die Kunst und die Stadt getan, wurde dann in der NS- Zeit verfolgt, verfemt und mit dem Tod bedroht“.
Sehr berührend und traurig ist auch die Geschichte der Sammlung von Emma Budge. Sie ist ziemlich gut dokumentiert – und eine echte Hamburgensie. Aber von vorne: Emma war eine Hamburger Jüdin, hat aber jahrzehntelang mit ihrem Mann in Amerika gelebt, der dort ein Millionenvermögen machte. Um 1900 kamen sie zurück in Emma Budges Heimatstadt. Sie hatte ein ganz enges Verhältnis zum Museum für Kunst und Gewerbe, sie vertraute dem damaligen Direktor Max Sauerlandt. „Mit dem Jahr, in dem die Budges nach Hamburg gezogen sind“, sagt Silke Reuther, „sind die Schenkungen und die finanzielle Unterstützung sprunghaft angestiegen.“
Ursprünglich wollte Emma Budge fast ihre gesamte Kunstsammlung und das Wohnhaus dem Museum vermachen. Als dann die Nazis an die Macht kamen, wurde Max Sauerlandt sofort suspendiert. Und ihrem Neffen, der in Frankfurt lebte, wurde die Professur aberkannt. Er kam mit seiner Frau nach Hamburg, lebte dann bei Emma Budge. Viele ihrer Verwandten verloren ihre Posten und gerieten in finanzielle Not. Entsetzt von der politischen Situation widerrief Emma Budge 1933 ihr Testament, begünstigte ihre Verwandten, die aufgrund der Diskriminierungen erst verarmten und dann in Lebensgefahr gerieten. Sie legte fest: Ihr Besitz dürfe zwar verkauft werden, aber nur zu akzeptablen Preisen – und die Stadt Hamburg dürfe nicht profitieren. Als sie 1937 starb, geschah genau das Gegenteil: Das Budge-Palais wurde zu einem Spottpreis an die Stadt verkauft – und ausgerechnet Amtssitz des NSDAP- Statthalters Karl Kaufmann. „Das war natürlich unsäglich“, sagt Silke Reuther. Die Kunstsammlung wurde in Berlin versteigert. „Ein wichtiges Indiz dafür, dass man eine Verschleuderung vermuten kann, ist, dass es wenige Monate später schon eine Folgeauktion gab.“
Durch Stützkäufe von Freunden und Kunsthändlern wurde trotzdem ein Millionengewinn erzielt, der auf ein Treuhandkonto gezahlt wurde. Aber die Erben sahen nichts von dem Geld. Die Reichsfluchtsteuer und andere Sonderversteuerungen fraßen alles auf. „Dieses gigantische Millionenvermögen hat sich in Luft aufgelöst oder besser gesagt: Es ist beim Fiskus gelandet.“
An die Geschichte der Budges erinnert unter anderem eine Meissener Terrine, die sie vor 1933 dem Museum geschenkt hatte, genauso wie eine Stickerei und ei- ne Klappsonnenuhr. Auch der Spiegelsaal aus dem Palais wurde hier wieder aufgebaut. Für einige Objekte und auch den Spiegelsaal ist inzwischen Wiedergutmachung geleistet worden. Und es gibt sogar eine schöne Geschichte, was die Beziehung zwischen Emma Budge und dem MKG von heute angeht. Es betrifft einige Flakons und zwei Porzel- lanfiguren. Emma Budge hatte sie damals einer Angestellten geschenkt. Deren Nichte hat diese Stücke 2004 ans MKG gegeben und sinngemäß gesagt: „Ich hab’s geerbt, mir sagt es nicht so viel, aber die Provenienz Budge gehört hier ins Haus.“
Trotz aller Mühen und Detektivarbeit wird eine Geschichte vermutlich nie ganz aufgeklärt werden: die Geschichte des Tafelsilbers, das die Juden abgeben mussten, damit es für die Waffenproduktion eingeschmolzen werden sollte. Das ist die dunkle Seite der Museumsgeschichte. Der kommissarische Nachfolger von Max Sauerlandt war Konrad Hüseler. Er war auch zuständig für die Wohnungsauktionen, die in jüdischen Haushalten durchgeführt wurden. Mit Carl Schellenberg, dem kommissarischen Leiter der Kunsthalle, begutachtete er das Silber. Ganz ist diese Geschichte noch nicht erforscht, sagt Silke Reuther. „Da müssen wir ran.“
Nach 1945 wurde Carl Schellenberg damit beauftragt, das Silber zu restituieren. Die Unterlagen dazu liegen im Staatsarchiv. „Ich war überrascht, wie viel Silber zurückgegeben werden konnte“, sagt Silke Reuther. „Aber es sind zwei Tonnen Silber in Hamburg verblieben.“ 1958 gab es dann eine Regelung zwischen der Stadt und einer von den Alliierten eingesetzten Organi- sation: Die Jewish Trust Corporation war eine Treuhandgesellschaft, die die Interessen der Juden wahren sollte. Aber die meisten Eigentümer waren ermordet worden, es war schwierig, die Erben zu ermitteln. Das Silber, das nicht zurückgegeben werden konnte, durfte laut Vertrag auf die Hamburger Museen verteilt werden, mit der Maßgabe: Sollte sich noch ein Besitzer melden, würde Hamburg die Stücke ohne Rücksicht auf die Rechtslage zurückgeben. „Das jüdische Silber liegt, teilweise noch originalverpackt, noch hier im Depot, in Umzugskisten, in Seidenpapier gewickelt“, so Silke Reuther, als wir vor der Vitrine mit dem Silber stehen. „Es ist das erste Mal, dass wir das in dieser Form zeigen.“
Wenn man bisher verdrängen konnte, um was es bei der Raubkunst wirklich ging – um Mord an den Menschen, denen diese Kunstobjekte gehörten, dann ist das bei den Löffeln, Suppenkellen und dem Vorlegebesteck kaum noch möglich. Da erzählt quasi jede Gabel, dass sie mal einem Menschen gehörte, der kurz nach Abgabe des Bestecks zumindest in Lebensgefahr geriet. „Das jüdische Silber berührt alle.“ Sie will deswegen mit Kollegen versuchen, noch Erben zu ermitteln. „Heute haben wir über das Internet so viele Möglichkeiten. Und dann kann es sein, dass die Dinge wieder in die Sammlung gehen oder weggegeben werden“, sagt die Kuratorin. „Das ist eine Geschichte, die noch nicht zu Ende ist.“
Text: Birgit Müller
Fotos: Dirk Fellenberg, Mauricio Bustamante