Ein Obdachloser schläft in einer U-Bahnstation. Passt das zur Menschenwürde? Foto: BELA
Das Grundgesetz wird 70 – und mit ihm auch sein Artikel 1, der die Menschenwürde garantiert. Was denken Hinz&Künztler und Obdachlose über diesen Satz? Geschichten, Gedanken und ein Wutausbruch.
70 Jahre wird das Grundgesetz in diesem Monat alt – und mit ihm der Artikel 1: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Wir wollten wissen, was Hinz&Künztlern zu diesem Satz einfällt. Es wurde eine schwierige Geschichte. Die gleich so beginnt: „Was, die Würde des Menschen ist unantastbar?“, schnaubt Peter wütend, als er im Vertriebscafé angesprochen wird.
Eigentlich ist er ein ganz verträglicher Typ, aber gerade hat er mit dem HVV – gefühlt eine Behörde – eine ganz schlechte Erfahrung gemacht. Er heißt hier Peter, weil er sich eigentlich raushalten will – und dann etwas Wichtiges sagt. „Erstens müsste es heißen: ‚Der Mensch ist unantastbar.‘ Und das stimmt ja nun gar nicht. Heute“ – es ist der 1. April und das Winternotprogramm für Obdachlose endet – „mussten ganz viele Obdachlose wieder zurück auf die Straße. Fünf Monate waren sie eingetütet – und jetzt haben sie wieder gar nichts.“ Er selbst hat inzwischen eine Unterkunft, aber wütend stapft er nach draußen.
Menschenwürde ist auch eine persönliche Sache
Der Artikel 1 geht ja nach der Würde des Menschen, die unantastbar ist, so weiter: „Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Viele Hinz&Künztler haben den Satz allerdings nicht auf das Verhältnis von Staat und Individuum bezogen, sondern auf ihre persönliche Situation.
Lange Nacht des Grundgesetzes
Genau 70 Jahre nach der Verkündigung wird am 23. Mai in Hamburg die „Lange Nacht des Grundgesetzes“ gefeiert. An 13 Orten in der Stadt gibt es Lesungen, Konzerte, Führungen, Vorträge und Performances. Am Jungfernstieg stellt der Künstler Michel Abdollahi eine Skulptur in Form eines Schwamms aus, der symbolisch den Hass aufsaugen soll. Eintritt und Teilnahme sind bei allen Veranstaltungen frei.
So wie Horst. Der 52-Jährige hatte den Satz vorher noch nie gehört und war erst etwas ratlos. Ein bisschen hochgestochen kommt er ihm vor. Aber Horst fällt dazu ein, „wie meine Würde verletzt worden ist“. Ein Boulevardblatt hatte ihn vor Jahren interviewt, als er noch akut alkoholkrank und obdachlos war. Damals hatte er auch Geld für Foto und Interview bekommen.
Vor ein paar Monaten, also Jahre nach der Geschichte, hat das Blatt einfach sein Foto von damals noch mal riesengroß gedruckt – und seine ganze Geschichte erneut erzählt. Dabei ist Horst seit Jahren trocken und hat eine Wohnung. „Kunden haben mich darauf angesprochen, alles war wieder da. Ohne mich zu fragen, haben sie das gemacht“, sagt Horst, und man merkt ihm an, dass das Wort „verletzen“ ernst gemeint ist. Inzwischen ist ein Anwalt eingeschaltet, aber Horst ist eigentlich ein Harmoniemensch. Lieber hätte er es gehabt, er hätte eine echte Entschuldigung bekommen.
Artikel 1 lässt niemanden kalt
Bei Alexandra aus Rumänien ist erst nicht ganz klar, ob sie den Satz verstanden hat. Sie holt aus und erzählt, dass ihr Vater die Mutter verlassen habe, als sie noch nicht geboren war … Erst im Laufe der Geschichte, die sie erzählt, wird deutlich, dass sie den Satz durchaus verstanden hat und dass ihre Mutter für sie ein Vorbild für Würde ist.
Auf jeden Fall zeigen all die Antworten, die Sie hier lesen, wie fragil und antastbar die Würde des Menschen ist. Dass keinen dieser Satz kalt lässt. Und zwar egal, woher jemand kommt oder wo man lebt: in Rumänien oder Deutschland, in einer Wohnung oder auf der Straße.
„Der Satz ist wunderbar, wunderbar. Ich akzeptiere das mit der Menschenwürde, aber es gibt viele Menschen, die das nicht tun. Sogar Obdachlose. Manche klauen einem einfach die Sachen, den Schlafsack, die Isomatte oder sogar die Papiere.“ (Robert, 37, obdachlos)
„Klar mag ich den Satz. Ich habe schon oft über ihn nach gedacht. Aber geht das überhaupt, dass die Menschenwürde unantastbar ist? Das ist doch immer ein schmaler Grat. Die Würde ist doch manchmal wie ein Gummiband, das sich verschiebt. Wenn es einem Menschen gut geht, kann er meistens mehr ab und fühlt seine Würde nicht gleich verletzt, aber wenn es einem schlecht geht, das kenn ich auch von mir, dann fühlt man sich vom kleinsten Pikser verletzt. Dann fühle ich mich schnell ignoriert oder als Mensch zweiter Klasse.“ (Jasmin, 45, wohnt in einer Einzimmerwohnung für psychisch Kranke)
„Die Menschenwürde ist eins der Grundrechte eines jeden Individuums. Es ist ein guter erster Satz für die Verfassung, er gibt ihr eine bestimmte Bedeutung.“ (Eugene, 58, lebt in einer Männerunterkunft)
„Für mich ist dieser Satz eine Lüge, weil sonst würde es nicht so viel Armut und Elend geben auf der Welt, beziehungsweise in Hamburg, wo 42.000 Millionäre leben und etliche Milliardäre. Das ganze Geld ist ungerecht verteilt. Die Schere zwischen Arm und Reich ist so groß. Und wir haben die Altersarmut, was mich am meisten ärgert.“ (Chris, 47, festangestellter Stadtführer bei Hinz&Kunzt, lebt in einer Wohnung)
„Was für ein Satz! Ich mag ihn und er heißt ja: Man soll die Menschen so lassen, wie sie sind. Und jeder soll so leben dürfen, wie er will. Trotzdem muss ich sagen: Ich liebe Tiere mehr als Menschen. Das ist jetzt nicht böse gemeint, aber Menschen machen auf der Erde so viel kaputt.“ (Rosi, 47, obdachlos)
„Den Satz habe ich noch nie gehört. Aber er bedeutet: Man muss die Würde von dem Menschen so lassen, sie sie ist. Und jeder Mensch hat seine Würde. Man sollte die Leute nicht verletzen, mit der Würde. Mir ist das schon passiert. Das fand ich nicht so lustig.“ (Horst, 54, wohnt inzwischen in einer Wohnung)
„Wir hatten keinen Papa. Meine Mutter war lieb mit uns, aber hatte keine Zeit für uns. Keine Zeit, weil sie immer extra gearbeitet hat, für uns, für den Haushalt, für unsere Schule, für unser Essen. Manchmal haben wir kein Brot, kein Essen gehabt. Aber für mich war und ist meine Mutter meine Lehrerin fürs Leben. Sie ist immer stark für uns – und ich bin auch so. Ich sag immer zu meinen Kindern: „Wir sind in Deutschland, das ist eine gute und große Sache für uns.“ Hier sind so viele Türen geöffnet – für meine Kinder. Vielleicht ist es für mich zu spät, aber ich glaube auch nicht. Ich rede immer mit meinen Kindern: „Du musst an gar nichts denken. Der Stress und die Probleme sind in meinem Rucksack, aber du musst lernen, das ist deine Aufgabe.“ (Alexandra, 30, kommt aus Rumänien, hat inzwischen eine Wohnung mit ihrem Mann und ihren zwei Töchtern)
„Den Satz habe ich schon öfter gehört, aber ich habe ihn irgendwie immer falsch verstanden. Weil: Ist es würdig, Menschen draußen leben zu lassen, auf der Straße? Sich nicht um sie zu kümmern? Obwohl Wohnangebote da wären, aber weil es ein Kostenfaktor ist, lasse ich die Würde des Menschen außer Acht? Das ist ein Ding, das nicht geht. Es ist ja auch ein sehr zweideutiger Satz. Es heißt zwar: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, aber bin ich würdig, wenn ich jemanden da unten sehe und nicht weiterhelfe? Wenn keiner Hilfe leistet, wo bleibt da die Würde?“ (Jörg, 48, wohnt zur Untermiete)
Was Hinz&Künztler über den ersten Artikel des Grundgesetzes denken, lesen Sie in unserer Mai-Ausgabe. Außerdem: Wieso die Seenotretterin Pia Klemp bald in Italien vor Gericht steht und wie ein Hafenlotse auf Hamburg blickt.
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