Nico Semsrott : Wachstumsbremse Mensch

Nico Semsrott ist vielleicht der traurigste Poetry Slammer Deutschlands – und dabei urkomisch. In seinem neuen Stück betreibt er als Praktikant in einer Glückskeksfabrik praktische Kapitalismuskritik. Wir haben ihn gefragt, wie er zum „Senkrechtstarter“ der Szene werden konnte.

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Angefangen hat Semsrotts Karriere mit Texten über seine Depressionen.

Hinz&Kunzt: Du nennst dich Stand Up Tragedist, dein Alter Ego ist eine depressive Figur mit runtergezogener Kapuze und monotoner Stimme. Was findest du am Traurigsein humorvoll?

Nico Semsrott: Zu lachen ist eine alternative Umgangsform, mit Traurigkeit klarzukommen. Bei Tragik kann man sich entscheiden: Lachen oder weinen? Wenn einem das Lachen gelingt, kann das therapierend und heilend sein. Ich kenne das aus meinem eigenen Leben.

Das musst du erläutern!

Ich habe einfach auf Poetry Slams Texte über meine Depression vorgelesen. Das war sehr unlustig und hat die Zuschauer teilweise so betroffen gemacht, dass sie gefragt haben: „Nimmst du Medikamente?“ Als ich verneint habe, hieß es: „Du solltest aber welche nehmen!“ Das ging mir selbst schnell auf den Keks. Ich habe dann versucht, einen Dreh reinzukriegen, indem ich diese Figur erfunden habe, deren Lebensmotto „No fun, no fun“ ist. Da habe ich gemerkt: „Aha, das funktioniert“, und habe es fortgesetzt.

Hatte das für dich einen kathartischen Effekt?

Ja, ich war dann von einem Tag auf den nächsten geheilt (lacht). Nein, das war ein langer Prozess von Auftritten kombiniert mit einer Gesprächstherapie. Ich hatte dann ja auch eine Aufgabe.

Über was kannst du noch lachen?

Ich mag den ganzen Bereich zwischen Tragik und Komik. Ich mag die Bereiche, die an Grenzen gehen. Mich interessiert hingegen überhaupt nicht Humor der Sorte Alltagsprobleme im Seichten. Also etwa, dass es in einem Café unfassbar viele Möglichkeiten gibt, Kaffee zu bestellen mit unfassbar vielen Namen. Das einfache Wiederholen einer Situation, die fast jeder kennt, ist aus meiner Sicht das Gegenteil von Humor. Worüber ich aber sehr gerne Witze mache, ist die katholische Kirche.

Bist du katholisch erzogen worden?

Nein, ich bin nur auf eine katholische Schule gegangen. Selten habe ich etwas Langweiligeres, Eintönigeres und Freudloseres erlebt als diesen Frontalunterricht dort.

Warst du damals der Klassenkasper?

Ich habe schon den Unterricht gestört, weil ich so gelangweilt war. Trotzdem wollte ich auf der Schule bleiben, weil ich mich seit der 8. Klasse dort immer engagiert habe: als Schulsprecher und bei der Schülerzeitung. Ich habe mich mit diesem Mikrokosmos identifiziert.

Erinnerst du dich noch an deinen ersten Auftritt als Poetry Slammer?

Ja, der war 2008 im Molotow. Ich konn- te schon viele Stunden vorher nichts essen. Das war schon ein sehr großer Schritt, einen Text zu schreiben und den oder eher mich dem Publikum zu opfern.

Wie hast du dich beruhigt?

Ich wollte weglaufen und ich glaube, ich hätte es auch gemacht, wenn da nicht eine Freundin gewesen wäre, die mich gezwungen hat, dazubleiben.

Bist du ihr dankbar?

Klar. Aber ich war insgesamt in der Zeit so verzweifelt, dass ich trotzdem irgendwann später auch auf der Bühne gestanden hätte. Das war Plan A und es gab keinen Plan B.

Du bist damit sehr erfolgreich, hast schon einige Preise gewonnen, wie dieses Jahr den Bayerischen Kabarettpreis in der Kategorie „Senkrechtstarter“. Wie wird man Senkrechtstarter?

Also, das ist ja ein komplettes Missverständnis. Mein Ziel ist es ja, die Leistungsgesellschaft zu beleidigen. Ich will immer Letzter werden. Das kommuniziere ich auch bei allen Poetry Slams und Wettbewerben ganz offen. Aber irgendwie missversteht die Leistungsgesellschaft meine Leistungsverweigerung als Leistung und erkennt das dann an mit solchen Preisen. So langsam habe ich das Gefühl, das System ist cleverer als ich.

Im Oktober trittst du mit deinem Kollegen Till Reiners im Polittbüro für Hinz&Kunzt auf. Das Stück heißt „Wachstumsbremse Mensch“ und ist eine Kapitalismuskritik. Warum dieses Thema?

Weil es ein entscheidendes Thema in unserem Leben ist. Es wird ja kaum darüber gesprochen, wie Macht verteilt ist und wer welche Entscheidungen treffen darf. Jeder kennt die Regeln und Zwänge, aber wir leben in einer so anonymen, entfremdeten Welt, dass kaum jemand sagen kann: „Okay, du bist deswegen dafür verantwortlich.“ Diese große Distanz bedeutet für mich als Konsument und Arbeitnehmer immer ein großes Gefühl von Ohnmacht. Über diese Ohnmacht muss unbedingt gesprochen werden.

Wie macht ihr das?

In unserem Stück streiten zwei Menschen darüber, wie sie Glück im Kapitalismus erreichen können. Till ist Besitzer einer Glückskeksfabrik und ich bin unbezahlter Praktikant in dieser Fabrik. Wir haben zwei sehr konträre Positionen: Für den Fabrikbesitzer ist ein Arbeitnehmer, der höheren Lohn haben möchte, tatsächlich ein Ärgernis. Der Praktikant versucht immer mehr dieses neoliberale Denken zu sabotieren. Ich denke, wir treiben das ganz gut auf die Spitze.

Und wie bist du darauf gekommen, Hinz&Kunzt zu unterstützen?

Gibt es noch ein anderes soziales Projekt in Hamburg? (lacht)

Interview: Simone Deckner
Foto: Dimitrij Leltschuk