Die Heroinstudie wird ein Jahr alt
(aus Hinz&Kunzt 126/August 2003)
Raus aus dem Kreislauf von Knast, Straße, Elend und Krankheit, das wollen Hanne und Florian. Die beiden sind Teilnehmer der Heroinstudie. Hier soll untersucht werden, ob Junkies bei Verabreichung von reinem Heroin unter ärztlicher Kontrolle in der Lage sind, ein normales und relativ gesundes Leben zu führen.
Hanne ist glücklich, als sie den „richtigen“ Umschlag zieht. Da steht drin, dass sie an der Heroinstudie teilnehmen darf und zwei Jahre lang zwei- bis dreimal täglich reines Heroin bekommt. Die 41-Jährige kann es kaum fassen: Seit sie 16 Jahre alt ist, hängt sie an der Nadel. Und jetzt das Paradies: Sie kriegt ihren Stoff – ohne Beschaffungsdruck, ohne anschaffen zu gehen, ohne Angst vor der Polizei. Und das Ganze noch mit so genanntem Case Management. Zu deutsch: Einzelbetreuung durch einen Sozialarbeiter, mit dem sie alle Probleme besprechen kann und der ihr weiterhilft. Ihr Ziel: „Einfach nur in Ruhe mit der Sucht leben, ein normales Leben führen, womöglich wieder arbeiten.“
Und genau darum geht’s auch in der Studie: Hier soll festgestellt werden, inwieweit sich die Menschen verändern, wenn man die Rahmenbedingungen der Sucht verändert. Eine ähnliche Studie in der Schweiz ergab, dass viele Teilnehmer ein fast normales Leben führen können, ohne Kriminalität und ohne Verwahrlosung. Jeder Zweite hatte wieder einen Job und keine Szene-Kontakte mehr.
Primäres Ziel der neuen Studie ist es nicht, die Abhängigen zu Abstinenzlern zu machen. Auch Hanne will gar nicht loskommen von der Sucht. „Das lohnt sich für mich nicht mehr“, sagt sie in Anspielung auf Aids, das bei ihr allerdings noch gar nicht ausgebrochen ist. „Diese Schufterei mache ich nicht noch mal.“ Die Ärztin und Projektleiterin Karin Bonorden-Kleij geht jedoch davon aus, dass ein Ausstieg aus der Sucht eher erstrebenswert wird, wenn die Klienten eine Perspektive im Leben entwickelt haben – die meisten sogar zum ersten Mal.
Die Einzel- und auch die Gruppenbetreuung sind deshalb darauf ausgerichtet, den Junkies beim Aufbau eines „normalen“ Lebens zu helfen: Möglichkeiten der Entschuldung werden erörtert, eine Wohnung gesucht oder auch ein Praktikumsplatz. Immerhin: Zwei der Klienten gehen wieder arbeiten, zwei aufs Abendgymnasium. Schon nach ein paar Wochen wirkt sich die Teilnahme an der Studie auf den Gesamtzustand der Patienten aus: „Die meisten sind wesentlich gepflegter als zu Beginn. Vielen sieht man die Sucht gar nicht mehr an“, so Bonorden-Kleij. Was aber noch besser ist: „Sie sind einfach gesünder.“
Hört sich gut an. Auch Hanne sieht gesund und gepflegt aus. Allerdings hat sie gerade einen Durchhänger. Zu Anfang fühlte sie sich von dem reinen Heroin völlig geplättet. „Wie unter Narkose stand ich da“, sagt sie, „ich war zu nichts mehr zu gebrauchen.“ Zwar geht sie regelmäßig in die Drogenambulanz am Högerdamm und „appliziert“ sich ihren Druck, wie das im Studienjargon heißt. Aber das Hochgefühl von früher will sich nicht einstellen. Das Straßenheroin, versetzt mit irgendwelchen Substanzen, zum Teil sogar mit Strichnin, „gibt viel mehr einen Kick“. 12 bis 14 Stunden habe das Wohlgefühl angehalten. Und von diesem Gefühl träumt Hanne schon wieder.
Lust, mit ihrem Sozialarbeiter darüber zu sprechen, hat sie nicht. Deshalb hat sie auch ihre Sitzungen geschwänzt. Was sie ihm auch nicht erzählen will: Dass ihr jetzt, wo sie keine Drogen mehr beschaffen muss, daheim die Decke auf den Kopf fällt. Und dann überfällt sie wieder die Sehnsucht. „Ich suche nach etwas und weiß nicht nach was“, sagt sie. Und das erinnert sie an früher, als sie 16 Jahre alt war. Da wollte sie unbedingt raus aus der Familie, wo sie immer auf die kleinen Geschwister aufpassen musste. Richtig lebenshungrig war sie damals.
Sie lernte Michael kennen, der war zehn Jähre älter und „richtig frei, tat nur, was er wollte“. Der imponierte ihr, und Hanne wollte genauso leben wie er. Und da er Heroin nahm, nahm sie es auch. In kurzer Zeit begann der Teufelskreis aus Drogen beschaffen, Knast, einigen Therapieversuchen und wieder Drogen. Aber auch Idylle: Sie und Michael bekamen eine Tochter, lebten in einem kleinen Häuschen zusammen – und verloren alles. „Mich zog es wieder raus. Ich hatte so eine unbestimmte Sehnsucht“, sagt Hanne. Ihr Kind bettelte: „Mama, bleib doch da, wohin gehst du schon wieder?“ Michael schlug sie. Dem Paar wurde das Kind weggenommen, Michael landete im Knast und Hanne auf der Straße.
Und jetzt ist sie eben wieder da, diese Sehnsucht. Wenn sie an Morgen und Übermorgen denkt, an Arbeit vielleicht, fällt ihr wenig ein. Dann leuchten ihre Augen plötzlich. „Wovon ich träume, ist eine Tierpension auf dem Lande“, sagt sie. „Ja, das wärs.“ Aber auch über diese Träume redet sie nicht mit ihrem Sozialarbeiter. Oder noch nicht. Könnte der nicht sogar einen Praktikumsplatz bei Hagenbeck oder im Tierheim arrangieren? Ja, vielleicht. Eine Möglichkeit. Aber wenn das nichts wird, was dann, wo überhaupt noch etwas suchen? „Manchmal“, sagt Hanne, „da glaube ich, das, was ich suche, das gibt es gar nicht.“
Florian ist da optimistischer. Obwohl auch der 32-Jährige gerade eine Durststrecke durchmacht. Er zog nämlich „den falschen Umschlag“ und landete in der Kontrollgruppe, die kein Heroin, sondern Methadon bekommt. Immerhin gehört er nicht zu den 50 Prozent, die dann die Studie abbrechen. Er lebt vom Prinzip Hoffnung, nämlich dass er nach einem Jahr doch noch ins Heroinprojekt rutscht.
Die Abhängigkeit, die nervt ihn inzwischen. „Ich wünsche mir, eines Tages nicht mehr abhängig zu sein, von nichts und niemand.“ Wenn er endlich reines Heroin bekommt, dann, so hat er sich vorgenommen, will er entziehen. Und dieses Mal, da ist er sich sicher, wird es klappen. Warum er nicht gleich jetzt entzieht, sofort und auf der Stelle? „Weil der Entzug vom Methadon so schmerzhaft und langwierig ist, viel schlimmer als beim Heroin.“
Vielleicht braucht er auch noch eine Zeit, um Abschied zu nehmen von dem Leben mit der Sucht, bei dem er zwar abhängig, aber auch für nichts verantwortlich ist. Gearbeitet hat er nämlich schon lange nicht mehr. Dazu war er körperlich gar nicht in der Lage. Das Abi, das er so gerne machen wollte, rückte in weite Ferne. „Ich hab’s selbst vergeigt“, sagt Florian selbstkritisch. Anfangs hatte er noch die Musik, Klavier spielte er und Bass. Das heißt: Eine kleine Weile blieb ihm noch die Musik. „Die Instrumente sind fürs Heroin draufgegangen.“ Immer weiter rutschte er ab.
In der Zeit vor der Studie wurde er mit Polamidon substituiert. Das gab zwar keinen Kick, und er nahm auch immer noch Drogen nebenher, „aber es war okay.“ Er tat alles, um zumindest nicht „Steine zu rauchen“ (Crack), die Droge, die als die ruinöseste gilt. Nervig findet er es, täglich in die Ambulanz zu müssen. „Mein Polamidon bekam ich für mehrere Tage.“
Aber die ganze Drogenbeschafferei, wo auch immer, soll sowieso eines Tages der Vergangenheit angehören. Das Abi nachmachen will er, das wär sein Traum, „und einen Job, der mir Spaß macht, am liebsten einer, bei dem ich anderen Menschen helfen kann“, sagt Florian. „Für irgendwas muss ich doch gut sein. Ich muss doch eine Aufgabe im Leben haben – und die habe ich noch nicht erfüllt.“