Früher trafen sich hier die Schönen und Reichen. Heute ist ein ehemaliges Hotel im Wienerwald ein Ort, an dem Obdachlose wieder Boden unter den Füßen bekommen können – mithilfe von eigensinnigem Federvieh.
Da kräht ein Hahn. Sein empört klingendes „Kikeriki“ ist nicht zu überhören hier „am Land“, wie sie in Österreich sagen. Meist ist es still zwischen Mayerling und Heiligenkreuz, 40 Autominuten von Wien entfernt. Für die Schönheit der Landschaft hat der 22-jährige Max gerade keinen Blick: „Da sind schon wieder zwei Hühner draußen. Da muss irgendwo ein Loch sein“, sagt er und sucht den Drahtzaun des Freigeheges nach Schäden ab. Sein Kumpel Alex, der die Szene aus einigem Abstand beobachtet hat, lächelt nachsichtig, als wolle er sagen, schlaue Hühner! Sie leben hier wie im Paradies, aber wenn die Freiheit ruft, sind sie doch sofort weg. Der 26-Jährige weiß auch schon, wie er die gefiederten Ausbrecher zurückholen kann. Entspannt verteilt er den Inhalt eines Eimers auf dem Erdboden des Geheges: Sofort flattern ein paar hungrige Hühner heran und picken das Gemüse auf. „Nur Melanzani vertragen nicht alle, davon bekommen sie schon mal Magenprobleme“, erklärt er. (Anm. der Red.: Melanzani ist der österreichische Name für Aubergine.) Eigentlich hat Alex nichts mit Hühnern am Hut. Erst seitdem er in der „VinziRast am Land“ lebt. Hier, mitten im Wienerwald, gibt es reichlich Platz für Hühner und Menschen, genauer: für ehemals obdachlose Menschen.
Früher stiegen hier betuchte Gäste aus Limousinen oder Helikoptern, machten Urlaub und ließen sich von einem Sternekoch im angeschlossenen Gourmettempel bewirten. 2016 war es damit vorbei. Der sozial engagierte Unternehmer Hans Peter Haselsteiner kaufte das verschachtelte Anwesen aus dem Konkurs und schenkte es der VinziRast: einer Wiener Sozialorganisation, die seit 20 Jahren mit ungewöhnlichen Projekten für obdachlose Menschen von sich reden macht, etwa Wohngemeinschaften, in denen Studierende mit ehemals Obdachlosen zusammenleben (Hinz&Kunzt Februar 2017). Nach drei Jahren aufwendigem Umbau eröffnete im Mai die VinziRast am Land.
Laut „Statistik Austria“ leben 58 Prozent der rund 19.450 Obdach- und Wohnungslosen Österreichs in Wien, in ländlichen Gebieten sind es nur wenige Hundert. Warum braucht es also in der Mitte von Nirgendwo ein großes Haus für Obdachlose? „Dass Natur heilsam ist und entspannend, ist ja lange bekannt. Inzwischen kann man ja auch Waldbaden“, sagt Leiterin Irina Baumgartner und lacht. Sie ist überzeugt, dass das Setting hier „viel effizienter“ ist als in Wien. Warum? Baumgartner macht eine ausladende Armbewegung und zeigt nach draußen: „Na, deswegen: Platz, ganz viel Platz!“ Der sei nicht nur räumlich vorhanden, sondern auch „ideologisch“: als Freiraum für Ideen und (vergessene) Talente zum Beispiel. Das Ziel: Die Obdachlosen sollen in der Natur „wieder Boden unter den Füßen bekommen“.
Die VinziRast am Land ist keine klassische Obdachloseneinrichtung, sondern ein Beschäftigungsprojekt mit Beherbergungsbetrieb und Landwirtschaft. Wer in einem der 16 Einzelzimmer wohnen möchte, muss sich auf bestimmte Regeln einlassen (können): vor allem die Bereitschaft mitzuarbeiten. Bei Anbau und Ernte von Obst und Gemüse, bei der Hühneraufzucht und -pflege, im Hofladen, in dem Ernte und Eier verkauft werden, oder im Hotelbetrieb. Für ihre Mitarbeit – zwischen drei und sechs Stunden am Tag – werden die Bewohner:innen auf geringfügiger Basis entlohnt. Für Kost und Logis müssen sie ihrerseits zahlen: je nach Einkommen zwischen 250 und 350 Euro monatlich. Dafür können sie theoretisch so lange bleiben wie sie wollen.
Max kommt aus Köln. Er ist vor seiner Familie regelrecht nach Österreich „geflüchtet“, erzählt der Mann, der mit seinem Wuschelkopf und dem Bart auch als Mitglied einer Rockband durchgehen könnte. Mit seinem Stiefvater gab es ständig Stress. Gewalt war an der Tagesordnung. „Ich bin zwei Mal fast totgeschlagen worden“, sagt er. In Wien kam er zunächst bei einer Freundin unter, jobbte als Lieferdienstfahrer und schnorrte am Bahnhof. Aus seiner WG wurde er wegen Mietschulden rausgeschmissen. „Ich hätte nie gedacht, dass mir das passiert, aber ich wurde dann doch obdachlos“, sagt er. In einer Tageseinrichtung in Wien lernte er den Österreicher Alex kennen: „Ich habe ihn nach einer Zigarette gefragt. Die hatte er nicht, aber wir sind ins Gespräch gekommen. Gefühlt ist er mein großer Bruder“, sagt Max. Sie ziehen gemeinsam durch Notunterkünfte, schlafen auch auf der Donauinsel, einer bei Obdachlosen in Wien beliebten Platte. Ein weitläufiges Areal in der Natur, auf dem es nicht weiter auffällt, wenn man sein Zelt aufschlägt.
„Max und ich mussten raus aus der Stadt“, sagt Alex, warum genau, erzählt der bedacht sprechende Mann nicht. Sie seien aber sofort hellhörig geworden, als sie in einer Einrichtung der Caritas von der VinziRast am Land hörten. Nach einem Telefonat mit Leiterin Irina und einem Probemonat zogen sie ein. So läuft es meistens. Sechs Wochen ist das jetzt her. „Jetzt will ich hier gar nicht mehr weg“, sagt Alex. Das liegt auch an den 290 Hühnern und ihren 59 Küken, um die sich die beiden Freunde kümmern, darunter seltene Sorten wie die braunen Araucana-Hühner, denen Schwanzfedern und -wirbel fehlen. Und dann ist da noch ein imposanter weißer Hahn namens „Snowbird“, der schon 20 Jahre alt sein soll. „Ich rede manchmal mit den Hühnern“, sagt Alex. „Ich weiß, die verstehen jetzt nicht unbedingt meine Worte, aber die wissen halt, wie es einem geht, habe ich das Gefühl. Es ist für mich oft leichter, als mit Menschen zu reden.“ Die Wissenschaft gibt ihm Recht. Hühner haben ein ausgeprägtes Sozialverhalten, können Menschen an ihren Gesichtern erkennen.
Doch ganz ohne menschlichen Kontakt geht es auch hier am Land nicht: „Wir sind wie eine große WG, jeder ist auf den anderen angewiesen“, sagt Irina Baumgartner. Momentan sind in Mayerling acht Zimmer belegt. Es waren auch schon mehr. Doch nicht für alle funktioniert das Projekt. Erst vor wenigen Tagen haben sie einen Bewohner delogieren (das österreichische Wort für zwangsräumen) müssen, der alkoholkrank war, sogar die Polizei musste kommen. Sie habe gehofft, dass es funktionieren könnte, sagt die Leiterin: „Zuerst hat es auch gut ausgeschaut, aber dann ist es komplett gekippt“, sagt sie. „Alkoholismus ist ein großes Problem. 90 Prozent der Leute scheiden deswegen schon im Vorhinein aus.“ Eigentlich gibt es in den Häusern der VinziRast kein Alkoholverbot. Aber die Erfahrung habe gezeigt, dass dies für suchtkranke Menschen nicht der richtige Ort sei. Es gibt weder Sozialarbeiter:innen noch ärztliche Sprechstunden. Neben Baumgartner, die zuvor als Entwicklungshelferin im Ausland tätig war, müssen zwei weitere Festangestellte die Arbeit „schupfen“, wie man hier sagt. Unterstützt werden sie dabei von 50 Freiwilligen, die Strukturen befinden sich noch im Aufbau. „Es ist schon Druck da“, sagt Baumgartner, die ihre eigene Wohnung in Wien oft tagelang nicht sieht, weil sie vor Ort schläft. Sie ist bereits die dritte Leiterin des jungen Projekts.
Für Leon ist die VinziRast am Land der richtige Ort. Bevor der 26-Jährige herkam, lebte er mit drei Obdachlosen in einem Gemeinschaftszimmer einer Notunterkunft. „Mühsam“ sei das ge-
wesen. Vorher war er aus seiner WG geflogen, eine „blöde Drogengeschichte“. „Und ich bin ja Transgender, nehme auch Hormone. Da ist einfach zu viel zusammengekommen“, sagt er und nestelt an seinem Schlüsselbund. Hier am Land hat Leon, der Lippenpiercings und Tattoos trägt, sein eigenes Zimmer mit großem Bett. Darüber hängt ein bunter Wandteppich mit Buddha-Druck. Leon sammelt BuddhaFiguren. Um die 30 dürften es schon sein. Bis auf drei Baby-Buddhas ist hier nichts von ihnen zu sehen: „Die lagern noch bei einem Freund in Kisten“, sagt er. Was bedeutet ihm das eigene Zimmer? „Sicherheit. Privatsphäre. Einfach so ein Raum, wo man sein kann“, sagt er. Dennoch, die erste Nacht war hart: „Am Anfang war es voll cool und ich hab mich gefreut. Und dann bin ich so auf meinem Zimmer gesessen und dann habe ich auf einmal voll geplärrt. Da ist dann alles einmal so abgefallen. Ich habe mir gedacht: ‚Scheiße! Jetzt bin ich hier allein! Ich kenn keinen!‘ Das war eine Katastrophe.“
Was half: die Therapie, die er mittlerweile in der Stadt macht. Und die anderen Mitbewohner:innen, fast alle in seinem Alter und mit ähnlichen Geschichten, mit denen er sich austauschen kann. Jeden Morgen um
8 Uhr frühstücken sie gemeinsam. Um 13 Uhr gibt es Mittag – der Küchendienst wechselt reihum. Was womöglich auch hilft: Leon ist auf dem Land aufgewachsen, hat Landschaftsgärtner gelernt. Er hilft gern bei der Ernte. „In und mit der Natur zu arbeiten, es gibt nichts Schöneres für mich“, sagt er. Aus den geernteten Tomaten hat er heute Vormittag Ketchup gekocht – so was hat er zuvor noch nie getan. Hier, in der ehemaligen Gastroküche des Sternekochs, ist noch einiges vom alten Equipment da. Und viel Raum, sich auszuprobieren.