Drei Minuten. 17 Minuten. Oder 21 Minuten. So lang kann ein Kurzfilm sein. Und dabei von einer ganzen Welt erzählen. Jetzt ist wieder das Kurzfilmfestival Hamburg. Hinz&Kunzt hat sich vorab zwei besondere Filme angeschaut — und zwei besondere Regisseure kennengelernt.
(aus Hinz&Kunzt 244/Juni 2013)
Mann, ist das laut! Junge behelmte Frauen rennen in einer Halle auf Rollschuhen im Kreis immer um die Wette, drängeln sich weg, schubsen sich. Knallen auf den Boden, stehen sofort wieder auf. So beginnt „Harbor Girl“ von Karsten Wiesel, ein Dokumentarkurzfilm über den Sport Roller Derby. Wie er darauf kam? Er war bei einer Freundin zum Essen eingeladen, und während er da sitzt, verabschiedet sich deren Schwester, hängt sich so gekonnt lässig ihre Rollschuhe über die Schulter, sie müsse zum Training. Wer läuft denn heute noch auf Rollschuhen? Und was ist das für ein Training? Wiesel erfährt zum ersten Mal von Roller Derby, einem Sport aus den USA, in den 30ern entstanden, der hierzulande noch sehr in den Anfängen steckt und nur von Frauen ausgeübt wird. Ob er mal mitkommen will, um sich das anzuschauen? Wiesel will. „Die Frauen, die Roller Derby machen, haben absolut nichts mit so was wie Cheerleading zu tun. Die wollen keine niedlichen Fans sein, die wollen selbst was machen, und zwar das, worauf sie Lust haben.“
Und so geht es um Kraft, um Ausdauer, um Geschick. Es geht um Tattoos, um coole Klamotten und um puren Spaß, begleitet von punkiger, lauter Riot-Girls-Musik, die aus den Boxen dröhnt, während die Männer den Frauen zujubeln und darüber fachsimpeln, ob das nun ein erlaubtes Blocking war oder ein unerlaubtes. Am Ende geht es um das große Derby der Harbor Girls aus Hamburg-St. Pauli gegen die Rollin Heartbreakers aus Kopenhagen. Das sie haushoch verlieren. „Ich wollte keinen belehrenden Film über diesen Sport machen, ich erkläre auch nicht die Spielregeln, die lernt man vom Zugucken. Ich wollte beobachten, was da für eine Stimmung ist, und ich wollte auch einen Sport am Anfang seiner Entstehung zeigen, denn damals gab es in ganz Deutschland nur ein paar Teams, denen niemand eine Halle vermieten wollte.“ Und er nennt sein Motto, was ihn beim Filmen antreibt: „Beobachten heißt miterleben können.“
Karsten Wiesels Weg zum Film ist wie bei vielen Filmemachern kein gradliniger: „Ich komme aus Thüringen, wollte nach der Schule Bildhauerei studieren, dachte damals, da kann vorher eine handwerkliche Ausbildung nicht schaden.“ Er macht eine Lehre zum Holzbildhauer, in Flensburg. Und jobbt nebenbei als Filmvorführer. „Dabei habe ich den Kurzfilm entdeckt, der mir vorher gar nichts sagte.“ Das hat Folgen: Karsten Wiesel gründete 2000 in Flensburg die dortigen Kurzfilmtage, organisiert das Festival fast alleine, bis sich ein tatkräftiger Filmverein etabliert.
Wiesel zieht weiter nach Hamburg, wo er nun selbst Film an der Kunsthochschule am Lerchenfeld studiert. Zugleich bleibt er mit den Flensburger Filmtagen verbunden, verdient damit bis heute einen Teil seines Einkommens. Ansonsten unterrichtet er, ist als Kameramann unterwegs, kuratiert auch mal Filmprogramme, wie neulich für den Evangelischen Kirchentag. „Es ist eine ziemlich wilde Mischung, aber bis jetzt läuft es, und ich muss keine nervigen Nebenjobs machen.“ Von daher ist für ihn der Kurzfilm keine Verlegenheitslösung, weil es für den großen, langen Film noch nicht reicht. Es ist eine eigene Kunstform, und er ist überzeugt, dass die Zeit für ihn arbeitet. Denn während früher Kurzfilme nur dann und wann spätnachts in kleinen, abseitigen Kinos zu sehen waren, hilft heute das Internet mit all seinen Möglichkeiten bei ihrer Verbreitung.
„Ein Film über einen 20-Jährigen, der auf der Suche nach sich selbst von einer Party zur nächsten stolpert, der würde nicht zum Profil der Schule passen.“
Bei Maxim Kuphal-Potapenko lief der Weg zum Film über die Musik: Er lernte nach der Schule in Berlin Ton- und Aufnahmetechnik. „Aber ich habe schnell gemerkt, dass Ton und bewegtes Bild gar nicht so weit auseinander liegen, und da habe ich Blut geleckt“, erzählt er. Er beschließt, Filmregie zu studieren. Und zwar in Hamburg – weil er Hamburg ohnehin mag und weil es hier die Hamburg Media School (HMS) gibt. „Da wird sehr straight gearbeitet, das mag ich: Du hast einen Übungsfilm gerade abgedreht, du bist noch am Schneiden, da beginnen schon die Seminare. Wenn du krank bist, musst du dich ordentlich krank melden, und Semesterferien gibt es auch nicht.“
Nun liegt sein Abschlussfilm vor, ein 20-Minüter, der auch nicht gerade in aller Langsamkeit entstanden ist: „Mein Team und ich hatten verschiedene Drehbücher vorliegen, die sich aber aus unterschiedlichen Gründen nicht realisieren ließen, und so mussten wir in zwei Tagen und zwei Nächten ein komplett neues Buch entwerfen.“ Als Motto gaben ihm seine Lehrer folgenden Satz mit auf den Weg: „Jede gute Tat muss sofort bestraft werden.“ Und darum geht es in „Dedowtschina“: Ein frisch eingezogener russischer Rekrut desertiert, weil er nicht Opfer von Misshandlungen durch Ältere werden will, wie sie in der russischen Armee üblich sind. Er flieht zu seiner Schwester nach Hamburg. Sie versteckt ihn so gut es geht in ihrer kleinen Wohnung, aber die Behörden sind ihm bald auf der Spur. Da lernt er eines Tages im Treppenhaus zufällig eine junge Mutter mit ihrem Kind kennen. Sie will ihm helfen – und löst eine Katastrophe aus.
Schon öfter haben sich Kurzfilme der HMS mit der Lage von Flüchtlingen und sogenannten Illegalen beschäftigt. „Die Schule hat den Anspruch, dass wir Schüler gesellschaftsrelevante Themen aufgreifen“, erzählt Maxim Kuphal-Potapenko. „Ein Film über einen 20-Jährigen, der auf der Suche nach sich selbst von einer Party zur nächsten stolpert, der würde nicht zum Profil der Schule passen.“ Das Thema des Films liegt ihm noch aus anderen Gründen am Herzen, kam er doch als 13-Jähriger von Russland nach Deutschland: „Ich bin froh, dass ich schon die deutsche Staatsbürgerschaft hatte, als ich hätte eingezogen werden können.“
Gedreht wurde im Schanzenviertel, in Altona, in der leerstehenden Reichspräsident-Ebert-Kaserne in Hamburg-Iserbrook und in Brandenburg auf einem ehemaligen Kasernengelände. Als Schauspielerin konnte für die Rolle der Mutter Pheline Roggan gewonnen werden, die schon mit Fatih Akin drehte. Dazu kommen Katharina Nesytowa als Schwester und Mark Filatov, der die Rolle des mutigen, aber auch schüchternen Kolja wunderbar spielt. Ja, es ist ein schöner, ein eindringlicher Film geworden, der ein komplexes Drama erzählt. Maxim Kuphal-Potapenko lächelt zufrieden. Aber nun soll es weitergehen: Verschiedene Ideen für einen ersten Langfilm hat er; doch noch ist nichts spruchreif.
Erst mal zeigt er seinen Film überall auf Festivals. Dieser Tage ist er unterwegs zu einem Filmfest in Kasachstan. In der einstigen Sowjetrepublik, die heute von dem autoritären Präsidenten Nursultan Nasarbajew regiert wird, und in der man Kritik am Militär nicht duldet, wird man seinen Film gewiss mit einigem Interesse betrachten.
Text: Frank Keil
Fotos: Dmitrij Leltschuk