Die Wohnunterkünfte der Stadt Hamburg sind voll belegt. Obdachlose und Geflüchtete müssen deshalb warten.
Julia Krüger kennt die Abläufe der Fachstelle für Wohnungsnotfälle. Offen dienstags und donnerstags am Vormittag, einen Termin braucht es nicht, es soll um schnelle Hilfe gehen: Wer wohnungslos ist und einen Anspruch auf öffentliche Unterbringung hat, bekommt schnell ein Zimmer, vielleicht in einem Wohncontainer, vielleicht in einem Hotel. Soweit die Idee.
Am 4. April begleitete Julia Krüger, Praktikantin in der Hinz&Kunzt-Sozialarbeit, einen wohnungslosen Hinz&Künztler, stand um kurz nach zehn Uhr in der Fachstelle im Bezirksamt Mitte, doch diesmal waren die Gänge brechend voll, so erzählt sie es ein paar Tage später: überall Menschen, sie zogen eine Nummer, warteten zwei Stunden. Als sie an der Reihe waren, sagte ein Mitarbeiter, es tue ihm leid, doch er könne keine Unterkunft vermitteln. Nichts sei frei, das könne noch Wochen dauern. Die einzige Möglichkeit sei ein Bett im Pik As, der Notunterkunft für Obdachlose.
Für den Mann, den Sozialarbeiterin Krüger an diesem Tag begleitete, ist eine Unterbringung in dieser Notunterkunft mit Mehrbettzimmern aber nicht möglich. Er leidet unter einer psychischen Erkrankung, die ihn viele Menschen auf wenig Raum nicht ertragen lässt. Derzeit schläft er bei einem Bekannten oder auf der Straße. Er erhält Grundsicherung, weil er wegen seiner Erkrankung nicht mehr arbeiten kann. Damit hat er Anspruch auf eine öffentliche Unterbringung. Doch die Unterkünfte sind voll.
In den sogenannten Wohnunterkünften bringt Hamburg alle Wohnungslosen mit Ansprüchen auf Sozialleistungen unter: egal ob Geflüchtete, Hamburger:innen, die ihre Wohnung verloren haben, oder Arbeitsmigrant:innen. Sie alle sind also die Leidtragenden, wenn es zu wenig Raum gibt. Wie angespannt die Lage ist, wurde zuletzt Ende März mit dem Ende des diesjährigen Winternotprogramms deutlich. Statt die Obdachlosen wie üblich auf die Straße zu setzen, kündigte die Sozialbehörde an, dass 200 Menschen weiterhin in der Großunterkunft in der Friesenstraße bleiben dürfen.
Schon im vergangenen Jahr durften Menschen, die nach Ansicht der Behörde als körperlich oder psychisch zu krank für die Straße galten und deren „Leib und Leben auf der Straße gefährdet“ war, in der Notunterkunft bleiben. Diese besonders kranken Obdachlosen bekommen neben einem Bett zwei Mahlzeiten am Tag, außerdem sind Sozialarbeiter:innen vor Ort und die medizinische Versorgung wird sichergestellt. Anders als im Winternotprogramm dürfen sie auch tagsüber bleiben.
Die Sonderregelung verdeutlicht, was Julia Krüger und ihr Kolleg:innen schon lange beobachten: Es gibt zu wenige Angebote für Menschen, die nicht nur eine Wohnung, sondern auch medizinische oder psychosoziale Unterstützung benötigen. Das Angebot der Friesenstraße reagiert auf diese Lücke, wird sie aber nicht schließen können.
Neben den besonders kranken Obdachlosen dürfen in diesem Jahr allerdings noch 84 weitere Menschen in der Friesenstraße bleiben. Bei ihnen ist die Lage eine andere: Sie haben Anspruch auf einen Platz in einer Wohnunterkunft – diese sind „angesichts von Kapazitätsengpässen“ aber derzeit voll, wie die Sozialbehörde mitteilte. Sie stehen vor der Situation, die auch Julia Krüger in der Fachstelle für Wohnungsnotfälle erlebte: Die Wohnunterkünfte sind voll, es bleiben nur die Notunterkünfte.
Es gibt allerdings große Unterschiede zwischen einer Not-und einer Wohnunterkunft. Eine Notunterkunft ist nur als vorübergehende Hilfe gedacht, Privatsphäre gibt es kaum, die Menschen schlafen in Mehrbettzimmern. In einer Wohnunterkunft hingegen sollen die Menschen mehr Platz und die Möglichkeit zur Privatsphäre haben. Viele leben über Jahre dort, weil es keine Wohnungen für sie gibt.
Vergangenen Dezember berechnete die Sozialbehörde, dass Hamburg im besten Fall weitere 5300 Plätze in öffentlichen Unterkünften braucht, schlimmstenfalls rund 16.900. Die Prognose orientiert sich daran, wie viele Menschen aus der Ukraine in diesem Jahr nach Hamburg fliehen. Die Stadt stellte sich auf einen Bedarf von 10.000 weiteren Plätzen ein. Hotels werden angemietet, gerade wurde die ehemalige Postbankfiliale in Hamburg-Nord als Unterkunft eröffnet, sie bietet Raum für 900 Menschen.
Dass sich dennoch auch ein Stau unter den Geflüchteten bildet, zeigt die Anzahl der sogenannten Überresidenten, also derjenigen, die nach ihrer Flucht länger als ein halbes Jahr in einer Erstaufnahmeeinrichtung untergebracht waren: Sie stieg in den vergangenen Monaten rasant an, im Oktober lag sie noch bei 274, im Februar waren es 1368 Menschen. Auch sie haben Anspruch auf eine öffentliche Unterbringung – und konkurrieren nun unweigerlich mit allen anderen Wohnungslosen um frei werdende Plätze.
Sozialarbeiterin Julia Krüger hat mit dem Hinz&Künztler einen Termin bei seiner psychotherapeutischen Ambulanz vereinbart. Ein Attest soll belegen, dass er in einer Gemeinschaftsunterkunft nicht leben kann. Vielleicht rückt er dann etwas nach vorne in der Warteschlange derjenigen, die auf eine Wohnunterkunft warten. Bis dahin schläft er weiter bei Bekannten oder auf der Straße.