Seit 250 Jahren gibt es in Hamburg die Patriotische Gesellschaft von 1765. Von Anfang an mischen die Mitglieder sich überall dort ein, wo es brennt in der Hansestadt – ganz überparteilich und überkonfessionell, denn sie fühlen sich nur dem Gemeinwohl der Stadt verpflichtet. Wir gratulieren!
Mitten im Herzen Hamburgs steht das Gebäude der Patriotischen Gesellschaft von 1765 wie eine Trutzburg an der Trostbrücke. Was hinter den dicken Mauern vor sich geht, darüber wissen die wenigsten Hamburger Bescheid. Das soll nun anders werden. „Exakt am 250. Gründungstag, dem 11. April, rollen wir den Bürgern am Tag der offenen Tür den roten Teppich aus“, erklärt Geschäftsführerin Wibke Kähler-Siemssen. Neben vielen Veranstaltungen wird dann zum ersten Mal auch das sanierte Haus präsentiert. „Wir wollen uns nicht selbst beweihräuchern, sondern wir wollen die richtigen Menschen als neue Mitglieder gewinnen. Menschen, die unsere Haltung mittragen, die aufgeklärt und überparteilich sind, überkonfessionell und dem Gemeinwohl verpflichtet.“
In der Patriotischen Gesellschaft tun sich kluge Köpfe freiwillig zusammen, weil sie in der Stadt etwas bewegen wollen. So war es schon 1765, als sich die Honoratioren der Stadt im Sinne der Aufklärung zusammenfanden, um Gutes zu tun. Viel haben sie seither auf den Weg gebracht: Die erste Sparkasse in Europa hätte es ohne sie ebenso wenig gegeben wie die Hamburger Bücherhallen, das Berufsschulwesen, Hochschulen oder das Museum für Kunst und Gewerbe.
Die Patriotische Gesellschaft vereinigt viele Interessen unter ihrem Dach. „Als ich hier anfing, lief ich wie ein Kind durch den Süßwarenladen und dachte: Das darf ich auch alles kennenlernen!“, erinnert sich Wibke Kähler-Siemssen. Die Mitglieder treffen sich in Arbeitskreisen und Projektgruppen, engagieren sich für Kultur und Bildung, für Stadtentwicklung oder interkulturelles Leben, für Denkmalschutz oder für Familien mit Kindern. Der Verein ist darüber hinaus als Förderin, Preisstifterin und Mitgesellschafterin – zum Beispiel bei Hinz&Kunzt – aktiv.
Dass der Verein noch immer einen elitären Ruf hat, ist der Geschäftsführerin bewusst. „Menschen suchen Exklusivität“, stellt sie fest. „Aber unsere Exklusivität ist Bereitschaft zur Mitarbeit.“ Als Geschäftsführerin muss Wibke Kähler-Siemssen alle Fäden zusammenhalten, auch während der oft aufreibenden Bautätigkeit. „Ich finde es spannend, wie hanseatisch es ist, dass man ein Haus für den Bürgersinn nicht nur für die Bürger gebaut hat“, sagt sie lachend. „Die Premiumlage war beim Bau natürlich für Geschäfte reserviert. Darüber durfte man gemeinnützig sein. Aber das Kapital, also das Haus, muss Geld verdienen“ – bis heute. Wo früher Geschäfte waren, wird es ab Herbst ein verpachtetes Restaurant hinter bodentiefen Fenstern geben, mit Außenplätzen auf dem dann verbreiterten Trottoir.
Es läuft also. Nur der Name bleibt sperrig. „Der Begriff des Patriotismus ist nicht per se positiv aufgeladen“, weiß sie, „er hat Widerhaken und ist unbequem.“ Auch deshalb wird eine Veranstaltungsreihe unter dem Titel „Was ist patriotisch?“ im Jubiläumsprogramm der heutigen Bedeutung von Patriotismus nachgehen. Sich von Pegida abzugrenzen war dem Vorstand so wichtig, dass er eine Stellungnahme abgab. Die Organisatoren seien „populistische Extremisten“, heißt es da. Man trete mit aller Entschiedenheit dem sprachlichen Betrug und dem ungenierten Missbrauch politischer und kultureller Traditionen entgegen, mit denen Enttäuschte, Orientierungslose und Verunsicherte irregeführt und zur Unterstützung nationalistischer, rassistischer und extremistischer Positionen instrumentalisiert würden.
Die Patriotische Gesellschaft steht
… für Öffnung in die Stadt
Dem Architekten Joachim Reinig haben es seine Vorgänger nicht leicht gemacht. Nach dem großen Brand von 1842 baute Theodor Bülau den heutigen Sitz der Patriotischen Gesellschaft im neugotischen Stil – dort, wo zuvor das alte, beim Brand zerstörte Rathaus stand. In den 20er-Jahren wurde das Gebäude um vier Geschosse aufgestockt.
In den Feuerstürmen 1943 brannte das Gebäude aus. Der Wiederaufbau durch den Architekten Friedrich Ostermeyer dauerte zehn Jahre, 1957 wurde das Haus fertiggestellt. Auch diesmal war keine Öffnung zu spüren, man wollte wohl die Aussicht auf die zerstörte Stadt vermeiden, mutmaßt Reinig. „Einerseits habe ich das, was meine Vorgänger gegen den Geist der Aufklärung entwickelt haben, zu respektieren“, erklärt er seine Aufgabe. „Andererseits gilt es, das Gebäude für heutige Aufgaben zu öffnen.“ Aufwendige Umbau- und Sanierungsarbeiten schaffen nun eine Verbindung in die Stadt, lassen Licht hinein und erlauben Blicke ins Innere, das bisher verborgen war.
… für Perspektivwechsel
Bei seinem ersten Einsatz als SeitenWechlser ging’s für Stefan Böttger gleich raus aus der Komfortzone: An diesem eisigen Morgen im Februar 2012 fuhr der Leiter Vermögensberatung in der Region Innenstadt der Haspa nicht mit dem geheizten Auto, sondern machte sich mit Bus, Hadag-Fähre und U-Bahn vom Eigenheim in Finkenwerder auf zum JesusCenter in der Schanze. „Vor der Tür standen ein paar Jungs, die eine Flasche Wodka köpften – morgens um neun“, sagt Böttger. „Die guckten und meinten: Du kommst hier noch nicht rein! Da wusste ich: Beim Dresscode hab ich alles richtig gemacht.“
Das Jesuscenter ist Anlaufstelle für Menschen in Not, vor allem für Obdachlose – und Partner des Programms SeitenWechsel, einem Weiterbildungsangebot für Führungskräfte. Eine Woche lang kriegen Manager dabei eine kräftige Dosis Leben ab – als Praktikanten in Einrichtungen für Wohnungslose, für Behinderte oder Suchtkranke, im Gefängnis oder im Hospiz. SeitenWechsel entstand in der Schweiz. Seit 15 Jahren gibt es einen deutschen Ableger, der zur Patriotischen Gesellschaft gehört.
Leiterin Doris Tito ist von Anfang an dabei. „Das Schwierigste ist, Personaler in Unternehmen für uns zu gewinnen“, weiß sie. Manche schicken erst mal ‚Testpiloten‘, die den SeitenWechsel ausprobieren, so auch die Haspa. Seither nehmen regelmäßig Mitarbeiter der Sparkasse im Rahmen ihrer Fortbildung daran teil. So kam auch Stefan Böttger dazu. Sein Fazit: „Führung und Menschlichkeit schließen sich nicht aus.“ Beim Mitternachtsbus ist er dabeigeblieben, einmal im Monat fährt er mit. Und manchmal, so freut er sich, erkennt auch jemand den Praktikanten Stefan aus dem Jesuscenter wieder.
… für einen guten Start
Sechs Jahre ist es her, dass Serdar mit seinen Eltern und seiner zehn Jahre älteren Schwester von Russe in Bulgarien nach Hamburg gekommen ist. Familie Ramadan sah in ihrer Heimat an der Grenze zu Rumänien keine Perspektive. „Es gab keine Arbeit, wir haben alles verloren“, erzählt Vater Ismail. Für Serdar war der Umzug kein Problem. „Ich habe Deutsch gelernt, indem ich mit meinen Freunden draußen war. In drei Monaten habe ich Deutsch gesprochen“, erzählt der Zwölf-Jährige stolz.
Für seine Mutter Serpin war es ohne deutsche Sprache schwer, sich zu integrieren. Doch sie fand schnell einen Job, heute arbeitet sie beim HVV. Ihr Mann, der in Bulgarien PC-Systeme gefertigt hatte, hat Arbeit bei einem Teppichhändler in der Speicherstadt gefunden. Für die Kinder stecken sie zurück. So konnten sie ihr Glück nicht fassen, als Serdar für das Diesterweg-Stipendium ausgewählt wurde.
Die Patriotische Gesellschaft ist Träger für das erste Familienbildungsstipendium in Deutschland. Es unterstützt begabte Kinder aus sozial benachteiligten Stadtteilen beim Übergang auf die weiterführende Schule. Das Besondere: Das Stipendium ist keine Geldleistung, sondern eine intensive Förderung für die Kinder und ihre Familien: die „Diesterweg-Familien“. Dazu gehören Exkursionen, Ferienkurse und Familienbildungsangebote, aber auch Beratungen, etwa bei der Wahl der weiterführenden Schule, und finanzielle Unterstützung bei der Anschaffung von Lernmitteln.
Auswahlkriterien für die Familien sind die drei großen Bs, erläutert Projektleiterin Christiane Mettlau: Begabung der Kinder, Bereitschaft der Eltern zur Mitarbeit, eine Benachteiligung ihrer Lebenslage. Den Familien wird gehörig auf den Zahn gefühlt, denn sie sollen sich für zwei Jahre auf ein umfangreiches Programm einlassen. Museen, Theater, Ausflüge gehören dazu, um den kulturellen Raum zu entdecken.
Um den deutschen Alltag besser kennenzulernen, stehen den Familien Paten zur Seite. Bei den Ramadans ist es Bianca Mariß, eine junge, voll berufstätige Frau, die dem Beirat der Patriotischen Gesellschaft angehört. Die Chemie stimmt zwischen der Familie und der Patin, die sehr stolz auf Serdar ist.
Der lebhafte Junge geht mittlerweile in die 6. Klasse des Hansa-Gymnasiums, das seine Familie zusammen mit seiner Patin für ihn ausgesucht hat. Auch hier ist er – wie schon in der Grundschule – Klassensprecher. Sein Berufswunsch? „Irgendwas mit Autos“, sagt der Sportwagenfan. Bei Marke, PS oder Baujahr macht ihm schon heute keiner was vor.
… für Freigeistigkeit
Auf vielen Zetteln hat Marlis Roß notiert, was sie loswerden möchte im Gespräch. Bei ihren zahlreichen Ehrenämtern muss sie schon mal nachgucken, damit sie keines vergisst – trotz ihres exzellenten Gedächtnisses. Vier Jahre lang war sie im Beirat und im Vorstand, sie sitzt im Kuratorium des Holger-Cassens-Preises und der Dorothea-Wilhelm-Stiftung, ist im Stiftungsvorstand der Bücherhallen, Mitglied der Stolperstein-Gruppe und in der Projektgruppe Salon. „Das ist schon alles“, sagt sie ganz ohne Ironie.
Sich für politisch verfolgte Menschen zu engagieren, das ist das große Lebensthema der 1937 geborenen Hamburgerin. 27 Jahre lang war sie Mitglied bei Amnesty International. Die klare Stellungnahme der Patriotischen Gesellschaft zu den ausländerfeindlichen Brandanschlägen in Mölln 1992 und Solingen 1993 brachte Marlis Roß in Kontakt. 2001 wurde sie Mitglied. „Mir gefällt die spezifische Art einer Toleranz von Individuen und nicht von Gruppen“, sagt sie. „Diese selbstverständliche Akzeptanz, dass man zuhört und sich auseinandersetzt.“ Dem Gedanken der Aufklärung fühlt sie, die Philosophin, sich besonders verpflichtet. „Ich habe gelernt, dass ich keine Angst haben muss, meine Meinung zu sagen.“
Dazu gehört auch, sich kritisch mit dem Begriff des Patriotismus auseinanderzusetzen. Zu den Motiven der selbst ernannten Patrioten von Pegida hat sie ihre ganz eigene Theorie: Sie seien nicht richtig informiert. „Und ich denke, das ist ein Problem der Vereinsamung vor und mit den Medien. Und Einsamkeit führt zu mangelndem Selbstbewusstsein.“
Text: Misha Leuschen
Fotos: Dmitrij Leltschuk