Dorothee Freudenberg besucht psychisch kranke Obdachlose an ihren Stammplätzen – in Deutschland ein einmaliges Projekt
(aus Hinz&Kunzt 201/November 2009)
„Möchten Sie vielleicht einen Kaffee?“ Scheu blickt der völlig verwahrloste alte Mann auf, als Dr. Dorothee Freudenberg ihn anspricht. Immerhin läuft er nicht mehr weg, denn mittlerweile kennt er die Psychiaterin, die ihn gemeinsam mit den Straßensozialarbeitern regelmäßig an seinem Stammplatz in der Hamburger Innenstadt besucht.
„Straßenvisite“ nennt sich dieses in Deutschland einmalige Projekt aufsuchender Psychiatrie, das bei der Caritas angesiedelt ist. Der Alte gehört zu einer kleinen Gruppe psychisch schwer kranker Menschen, die in Hamburgs City auf der Straße leben – in einem Elend, das für Dorothee Freudenberg schwer erträglich ist. Nach Schätzungen leiden bis zu 80 Prozent der Obdachlosen an psychischen Erkrankungen; verlässliche Zahlen gibt es nicht. „Diese Menschen stehen völlig allein und isoliert auf der Straße“, sagt die 57-Jährige. „Sie haben seit Jahren keinen Kontakt zu ihren Angehörigen, sie beziehen keine Sozialleistungen, sind verwahrlost, haben keine vernünftige Kleidung, ernähren sich aus dem Müll. Sie schaffen es einfach nicht mehr, aus eigener Kraft Hilfe zu suchen oder anzunehmen. Das ist ein entsetzliches Leben.“
Fünf bis sechs Stunden pro Woche unterstützt die resolut-freundliche Ärztin die beiden Straßensozialarbeiter des Diakonischen Werks, Thomas Kanehl und Claudia Nickel. Für diese Arbeit braucht sie eine hohe Frustrationstoleranz. „Psychisch schwer kranke Obdachlose beklagen zwar – zu Recht – das Elend, in dem sie sind, haben aber noch mehr Angst vor Veränderung“, weiß die Ärztin und erzählt von einem psychisch kranken Mann, der seit vielen Jahren auf der Straße lebt: „Er hat uns sein Leid geklagt, wie schrecklich er aussieht mit seiner zerrissenen Hose. ,Was macht die Gesellschaft mit mir?‘ hat er gefragt.“ Da habe ein Auto gehalten, ein Mann sei ausgestiegen, habe dem Obdachlosen aus einem Kofferraum voller strapazierfähiger Arbeitshosen eine gegeben und sei wieder verschwunden: „Das war wie im Märchen.“ Aber eines ohne Happy-End, denn auch das gute Zureden der Sozialarbeiter brachte den überforderten Mann nicht dazu, die Hose anzuziehen. „Als wir später wiederkamen, war er verschwunden, und die Hose lag – immer noch eingeschweißt – auf einem Autodach. Da kommt man kaum gegen an.“
Um Menschen, die zu ängstlich und zu gestört sind, um einen Kontakt zu ertragen, muss sie oft lange werben. „Primär geht es um eine Einschätzung der Gefährdung. Sind die Leute bereit und in der Lage, Hilfen anzunehmen?“ Natürlich habe Selbstbestimmung Vorrang vor jedem Eingriff: „Aber manchen geht es so richtig elend, dass sie nicht mehr entscheiden können. Dann geht es erst mal nur ums Überleben. Also sorgen wir dafür, dass sich die Leute erholen können, zum Beispiel, dass sie in der Krankenstube in eine Badewanne und ein vernünftiges Bett kommen und was im Bauch haben. Und wenn sie dann in einer normaleren Verfassung sind, reden wir mit ihnen über den Umzug in eine Wohneinrichtung, eine Betreuung oder die Einweisung in ein Krankenhaus.“
Doch nicht immer läuft es so gut, manchmal sind Zwangseinweisungen als letztes Mittel nicht zu vermeiden. Drei davon hat sie in den vergangenen anderthalb Jahren veranlassen müssen, und sie setzen ihr immer noch zu. Wie zum Beispiel im vergangenen Winter, als wegen akuter Lebensgefährdung ein Eingreifen nötig gewesen sei. „Da lag eine hilflose, verwahrloste Frau am Glockengießerwall, die völlig aufgebracht reagierte, als ich sie ansprach.“ Mit Glück erfuhr die Ärztin, dass die Frau einen rechtlichen Betreuer hatte, mit dem sie verabredete, die schwer kranke Frau mithilfe der Polizei in eine Klinik zwangseinweisen zu lassen. „Sie wehrte sich, das war wirklich keine schöne Szene.“ Unverhofften Zuspruch fand sie bei einem Obdachlosen: „Der sagte: ,Das ging ja wohl nicht anders. Das haben Sie gut gemacht.‘“ Die Frau lebt heute in einer psychiatrischen Einrichtung. Auch die Schicksale der beiden anderen Obdachlosen, die sie wegen schwerer gesundheitlicher Probleme zwangseinweisen musste, verfolgt sie weiter. „Der eine lebt wieder in der City auf der Straße, der andere ist leider verschwunden“, sagt sie leise.
Immer wieder erlebt sie, dass sich Menschen für „ihren Obdachlosen“ verantwortlich fühlen und sie regelmäßig unterstützen: „Mit Kaffee, Brötchen, jeden Tag zwei Euro – fast wie Paten.“ Aber auch Passanten fühlten sich zuständig und mischten sich ein, wenn die „Straßenvisite“ mit den Obdachlosen Kontakt aufzunehmen versuche, und das oft recht forsch. „Das kann schwierig werden, weil sie glauben, sie müssten einschreiten, weil sie den Widerstand spüren im Verharren der Obdachlosen. Wir müssen dann viel erklären, das kann schon nervig sein.“
Oft lautet die Diagnose auf eine schwere psychische Erkrankung, meist eine seit vielen Jahren unbehandelte schizophrene Psychose. Doch wie kann man bei Menschen, die auf der Straße leben, überhaupt eine Diagnose stellen? „Ich finde die Möglichkeiten günstig“, sagt sie fröhlich. „Ich kann die Leute immer wieder aufsuchen, andere zu ihnen befragen und Informationen zusammentragen. Das geht besser als in einer Praxis oder der Klinik. Hier auf der Straße habe ich Zeit – das ist ein Luxus.“
Dass ihr Eingreifen manchmal eine Gratwanderung bedeutet, weiß die Psychiaterin, die hauptberuflich als Gutachterin in Betreuungsrechtsfragen arbeitet und neben der „Straßenvisite“ noch regelmäßig in der Obdachloseneinrichtung Pik As Sprechstunden anbietet. Zu Beginn ihrer Arbeit sei sie ängstlicher gewesen und habe sich oft gefragt, wie man auch nur eine Nacht draußen überleben könne. „Mittlerweile weiß ich, dass sich die Leute gut adaptiert haben und mitunter viele Jahre auf der Straße leben.“
Natürlich sei ihr bewusst, dass sie sich bei der Straßenvisite oft in einer Grauzone bewegten. Denn immer müsse genau abgewogen werden, ob eine Gefährdung einen Eingriff in die persönliche Freiheit des Betroffenen rechtfertige. Deshalb sei dies das letzte Mittel der Wahl, und vor allem sei es wichtig, nicht allein zu arbeiten: „Manchmal ist eine Einschätzung tagesformabhängig: Wie viel Elend habe ich an diesem Tag schon gesehen? Der Kollege sieht andere Aspekte, und gemeinsam schätzen wir die Lage differenzierter ein. Deshalb ist ein gutes Team wichtig.“
Und so lobt sie auch die Zusammenarbeit der unterschiedlichen Einrichtungen in der City als enorm kooperativ, gut vernetzt und verantwortungsbewusst – ob Bahnhofsmission, Mobile Hilfe oder Krankenstube, ob Pik As, Herz As oder Stützpunkt: „Das habe ich von meiner klinischen Arbeit so nicht in Erinnerung.“
Wenn sie sich etwas wünschen dürfte für die Zukunft, dann wäre das eine Verstärkung der aufsuchenden psychiatrischen Straßensozialarbeit in anderen Stadtteilen, in St. Georg oder auf dem Kiez etwa. Wie sich das finanzieren lässt? Da grinst sie. „Zum einen kostet es nicht viel, weil man mit wenigen Stunden schon viel erreichen kann. Und Hamburg ist doch eine reiche Stadt!“
Text: Misha Leuschen
Foto: Mauricio Bustamante
Runder Tisch St. Jacobi
2002 haben der „Runde Tisch St. Jacobi“ und das City-Management die Spendenaktion „Ein Dach für Obdachlose“ initiiert, die Projekte zur Wiedereingliederung wohnungsloser Menschen fördert. Aus diesen Mitteln wird auch die „Straßenvisite“ finanziert, die sich um psychisch kranke Obdachlose westlich des Hauptbahnhofs kümmert. Zum „Runden Tisch St. Jacobi“, der sich die Lösung sozialer Probleme in der Innenstadt zur Aufgabe macht und in diesem Monat sein zehnjähriges Bestehen feiert, gehören Vertreter der Kaufmannschaft, der Kirchen, der Stadtmission, der sozialen und karitativen Initiativen, der Polizei und des City-Managements. Für Spenden stehen über 150 am einheitlichen Logo erkennbare Sammelbehälter in Geschäften, Banken und Einrichtungen der Innenstadt bereit.