Das Hilfsprojekt KARO kämpft an der deutsch-tschechischen Grenze gegen Kinder- und Jugendprostitution
(aus Hinz&Kunzt 135/Mai 2004)
Auf den ersten Blick erscheint Cheb – auch „Bangkok des Ostens“ genannt – als eine tschechische Kleinstadt wie viele andere. Prachtvolle Bauten, graubraune Fassaden, viel marodes Mauerwerk. Doch der Ort nahe der deutsch-tschechischen Grenze ist eine Hochburg der Prostitution von Kindern, Mädchen und Frauen. Deswegen betreibt das grenzüberschreitend arbeitende Hilfsprojekt KARO hier eine Zweigstelle im Kampf gegen den Missbrauch an Mädchen wie Magda (Name geändert, Red.).
Magdas Jugend endete früh. Mit 15 verkaufte eine „Freundin“ sie an einen Zuhälter. Magdas Mutter war gerade gestorben, Familie hat sie seitdem nicht mehr. „Du kannst da gutes Geld verdienen“, erzählte die vermeintliche Gönnerin dem Mädchen aus einem armen tschechischen Dorf. Dass sie zur Prostitution gezwungen werden würde, erzählte die Frau der Ahnungslosen nicht. Viereinhalb Jahre ist das her. Heute lebt Magda bei der Mutter ihrer besten Freundin undgeht auf den Straßenstrich. Dass die Mutter der Freundin ihre Zuhälterin ist, erzählt Magda nicht. Sie spricht auch nicht darüber, dass sie erst vor kurzem versucht hat, sich umzubringen. Zu ausweglos erschien ihr die Lage. „Sie bräuchte eine Arbeit, eine Wohnung“, sagt Sozialarbeiterin Cathrin Schauer von KARO. „Aber diese Region hat eine der höchsten Arbeitslosenzahlen Tschechiens.“
Wie viele Kinder, Mädchen und Frauen in den Städten und Dörfern entlang der deutsch-tschechischen Grenze zur Prostitution gezwungen werden, weiß niemand. Ihre Zahl dürfte in die Tausende gehen. Sie stammen aus den Armutsregionen der Slowakei und Tschechiens, aus Russland und der Ukraine. Ihr Leben ist eine unendliche Spirale aus Gewalt und Angst – und ihre „Kunden“ sind zu 90 Prozent deutsche Männer, von denen meist niemand ahnt, zu welcher Menschenverachtung sie in der Lage sind. Wer das Ausmaß des Elends erahnen will, das sich Tag für Tag hinter dem bröckelnden Putz von Orten wie Cheb abspielt, muss sehr genau hinschauen: die vielen Kinder, die an den Straßenrändern und in den Parks stehen, als ob sie auf etwas warten würden. Ein Mann mit einem Baby auf dem Arm. Versteckte, kleine Handzeichen. Dicke Wohnmobile und PKWs mit deutschen Kennzeichen, abgestellt auf Parkplätzen, als wären ihre Halter gerade beim Sightseeing. Die Clubs mit den leuchtend-rot blinkenden Herzen über der Eingangstür, die Frauen, die sich auf der Straße feilbieten, meist unscheinbar gekleidet, die Werbeschilder am Straßenrand, wenn man die Stadt auf der Landstraße Richtung Deutschland verlässt: Sie sind Teil eines Skandals, den die meisten dies- und jenseits der Grenze nicht sehen wollen.
Dabei genügt ein Blick ins Internet. Dort erzählen die Freier von ihren „Erlebnissen“, wie jener Deutsche, der angibt, ein Lehrer zu sein: „Kurz entschlossen trieb mich die Fleischeslust nach einem wirklich miserablen Arbeitstag am frühen Abend gen Osten… Trotz der hohen Schuhe recht klein, knabenhaft schlank (ja dünn), ein kaum so zu nennender Busen, ein schmaler Hintern – dazu ein kindlich süßes Gesicht… Die niedliche, unentwickelte Kleine oder das reife, volle Weib? Eine Gewissensentscheidung stand an… Reifeprüfung für den Teacher sozusagen…“
Seit 1994 versucht das Hilfsprojekt KARO, den Mädchen und Frauen beim Ausstieg aus dieser Szene zu helfen. Zweimal die Woche fahren die drei Straßen-Sozialarbeiterinnen eine 100 Kilometer lange Strecke in Tschechien ab, suchen das Gespräch, verteilen, wo es geht, Kondome an Prostituierte zum Schutz vor Aids und anderen Geschlechtskrankheiten. Zwangsprostitution, Frauenhandel, kommerzieller sexueller Missbrauch von Kindern und Drogenprobleme gewinnen mehr und mehr an Bedeutung. Umso wichtiger ist das Engagement von KARO. Die Beratungsräume in einer kleinen Hinterhaus-Wohnung nahe der Altstadt sind Zufluchtsort für die Prostituierten. Sie können dort duschen, Wäsche waschen und schlafen. Und oft sind die Sozialarbeiterinnen die einzigen, die den Mädchen den Rücken stärken.
„Cathrin ist so etwas wie eine Mutter für mich“, sagt Magda über die Mitbegründerin von KARO. Die beiden haben sich vor zwei Jahren kennen gelernt. Damals waren Magda und ihre Freundin auf der Flucht vor einem Zuhälter. Mit dem Auto rasten die drei zur Grenze. Dort beantragte Cathrin Schauer für die Mädchen ein Visum für Deutschland aus humanitären Gründen – und hatte Erfolg. Ärger gab es erst hinterher. Die tschechischen Behörden warfen der Sozialarbeiterin vor, sie habe illegal Menschen außer Landes geschafft. „Das hat uns fast das Projekt gekostet.“
Zwei Monate durften Magda und ihre Freundin in Deutschland bleiben – danach mussten sie wieder zurück. „Spätestens wenn es um Geld geht, wird es eklig“, sagt Cathrin Schauer. Weil es den Sozialarbeiterinnen seitdem nicht mehr gelungen ist, Prostituierte über die Grenze in Sicherheit zu bringen, hat KARO Fluchtwohnungen in Tschechien angemietet. „Einmal mussten wir um vier Uhr morgens in eine Kirche fliehen“, erzählt Cathrin Schauer. „Sonst hätten wir die ganze Sache nicht überlebt.“
Die tschechische Polizei sieht derweil tatenlos zu – oder droht den Mädchen sogar. „Wenn wir euch noch einmal auf der Straße sehen, schlagen wir euch tot!“, soll ein Polizist mal zu Magda und ihren Kolleginnen gesagt haben. Offiziell ist Straßen-Prostitution in Cheb wie in vielen Orten Tschechiens verboten, eine Sperrgebietsverordnung regelt das. Also verlangen die Polizisten von den Frauen Geld, „2000 bis 5000 Kronen“, sagt Magda, das sind 70 bis 170 Euro. Viel Geld ist das in einem Land, in dem ein Monatsverdienst bei durchschnittlich rund 400 Euro liegt. Wenn die Mädchen nicht zahlen würden, erzählt die junge Frau, schaffe die Polizei sie oft raus aus der Stadt in einen großen Wald. Dort würden sie die Frauen schlagen. Und manchmal, wenn die Polizisten in Zivil unterwegs sind, machen sie auch Schlimmeres. Dann, so Magda, schlafen sie mit den Mädchen. Cathrin Schauer bestätigt das: „Wir hören solche Geschichten immer wieder. Die Polizisten wissen genau: Es passiert ihnen nichts.“
Von einem „Ordnungshüter“ ist Magda noch nicht misshandelt worden. Dafür von einem deutschen Freier. Als sie zur Polizei ging, um Anzeige zu erstatten, wurde sie weggeschickt. Prostitution sei verboten, sie solle sich zum Teufel scheren. Erst als Sozialarbeiterin Schauer sie auf die Wache begleitete, durfte Magda aussagen. Und weil sie sich das Autokennzeichen merken konnte und die beiden anschließend auch in Deutschland Anzeige erstatteten, läuft heute ein Verfahren gegen den Freier.
Bevor Magda zurück auf den Strich geht, sagt sie: „Ich will nur ein ganz normales Leben leben, so wie andere Menschen auch. Aber wie? Ich weiß es nicht.“