Hinz&Kunzt-Mitarbeitende besuchen einen Verkäufer in einer städtischen Unterkunft, die sehr kranken Obdachlosen Schutz bieten soll. Sie finden ihn in katastrophalem Zustand hilflos im Bett liegend vor. Im Krankenhaus muss er ins künstliche Koma versetzt werden. Wie konnte es dazu kommen?
Mit diesem schrecklichen Bild in seinem Kopf, sagt Hinz&Kunzt-Vertriebsmitarbeiter Gabor Domokos, kommt er auch nach 14 Tagen nicht klar: Wie der ausgemergelte Milan* nackt auf dem Bett liegt, die Decke nur über den offenen Unterschenkeln, eingenässt und eingekotet, mit Wunden am ganzen Körper, voller Läuse und umschwirrt von Fliegen. Offensichtlich alleine gelassen in einem Zimmer im dritten Stock der städtischen Unterkunft Friesenstraße, unfähig, sich selbst zu helfen. Wann hat der Mittfünfziger das letzte Mal getrunken, wann gegessen? Wann zuletzt Medikamente gegen seinen Diabetes bekommen? Fragen wie diese schießen Gabor und H&K-Sozialarbeiterin Isabel Kohler durch den Kopf.
Sie sind an diesem Dienstag Ende April gekommen, um Hinz&Kunzt-Verkäufer Milan eine gute Nachricht zu überbringen: Sein Krankenversicherungsschutz ist geklärt; läuft alles glatt mit den Ämtern, könnte er bald in ein Pflegeheim ziehen. Doch das spielt in diesem Moment keine Rolle mehr, erinnert sich Isabel Kohler.
Schon im Flur schlägt ihnen beißender Gestank entgegen. „Als wir ins Zimmer kamen, waren wir einfach nur geschockt.“ Gabor Domokos berichtet: „Ich habe mich zu ihm gestellt, seine Hand gestreichelt und gesagt: ,Jetzt wird alles gut!‘ Er konnte nicht sprechen. Aber erkannt hat er uns.“ Die beiden fordern einen Sozialarbeiter des Unterkunftsbetreibers Fördern & Wohnen (F&W) auf, sofort einen Rettungswagen zu rufen. Minuten später stehen zwei Sanitäter im Zimmer von Milan. Die sind ebenfalls schockiert, berichten Isabel Kohler und Gabor Domokos übereinstimmend. Sagen, dass sie so etwas selten gesehen hätten. Und dass Milan nicht erst seit gestern so aussehen könne, wie er an diesem Vormittag aussieht – also möglicherweise seit Tagen unversorgt hier liegt. Hinz&Kunzt versucht im Nachgang, mit den Sanitätern zu reden – vergeblich. Ein Sprecher der Feuerwehr erklärte dazu: „Zeugenaussagen sind nur im Rahmen eines rechtlichen Verfahrens … zulässig.“
Im vorläufigen Notfallbericht des Krankenhauses, der Hinz&Kunzt vorliegt, listen die Ärzt:innen ihre Befunde auf: Milan wird mit einer Blutvergiftung eingeliefert („Weichteilsepsis nach Liegetrauma“), akutem Nierenversagen, einem erhöhten Blutzuckerspiegel und er hat kürzlich offenbar einen Schlaganfall erlitten. Sein Körper, heißt es, ist von Geschwüren übersät („multiple Hautulzerationen“) und von Kleiderläusen befallen. Eine Wunde am Bein macht eine Notoperation unerlässlich. Um den Schwerkranken zu stabilisieren, versetzen die Ärzte ihn in ein künstliches Koma, aus dem er erst Mitte Mai zurückgeholt wird.
Das ehemalige Bürogebäude in der Friesenstraße in Hammerbrook, in dem Milan vor seinem Krankenhausaufenthalt gelebt hat, ist ursprünglich eine Winternotunterkunft. Nachdem sich der Gesundheitszustand vieler Obdachloser immer mehr verschlechtert hat, steht das Haus auch im Sommer sogenannten besonders vulnerablen Menschen offen. So bezeichnet die Sozialbehörde Obdachlose, die das Leben auf der Straße unübersehbar gezeichnet hat: die kaum noch gehen oder stehen können, auf Rollatoren oder Rollstühle angewiesen sind oder im Bett liegen müssen, weil sie so krank und entkräftet sind – wie Milan.
Dem Osteuropäer geht es in seinen Jahren auf der Straße wie vielen nicht deutschen Obdachlosen: Die meisten Hilfsangebote des Sozialstaats bleiben ihm verwehrt, weil er vermeintlich keine Rechtsansprüche hat und selbst nichts von ihnen weiß. Im Sommer 2018 kommt er zu Hinz&Kunzt. Da hat er schon knapp anderthalb Jahre in Deutschland regulär gearbeitet, unter anderem in einem Schnellimbiss in Süddeutschland. „Ein ganz ruhiger, freundlicher Mensch. Ich konnte von Anfang an gut mit ihm plaudern“, erinnert sich Gabor Domokos. Jahrelang macht Milan Platte, nach Ausbruch der Coronapandemie kommt er in einem spendenfinanzierten Hotelzimmer unter. Lange verkauft er Hinz&Kunzt in Winterhude.
Doch mehrere Schlaganfälle und eine Diabetes-Erkrankung verwandeln den einst so selbstständigen Mann zunehmend in einen Pflegefall. Aus dem Hotelzimmer muss er im Dezember 2023 raus, weil das Haus abgerissen wird, und er landet wieder auf der Straße. Einmal lässt Hinz&Kunzt ihn in ein Krankenhaus bringen, einmal in die Krankenstube für Obdachlose. Doch dort kann er nie lange bleiben. Was fehlt, ist ein Pflegeplatz, sagt Gabor Domokos: „Das habe ich schon Ende vergangenen Jahres gedacht.“ Das Problem ist: Wer keinen Anspruch auf Bürgergeld hat, dem zahlt der Staat auch die Pflege nicht. Dass Milan sehr wohl ein Recht auf Hilfe hat, erfährt H&K-Sozialarbeiterin Isabel Kohler erst nach aufwendigen und langwierigen Recherchen: „Er selbst konnte mir nicht mehr erzählen, wo er überall gearbeitet hat, weil sein Gedächtnis irgendwann nicht mehr richtig funktionierte.“
Hätte der H&K-Verkäufer nicht längst in die neue Unterkunft für pflegebedürftige Obdachlose in Niendorf verlegt werden müssen, die die Stadt im April eröffnet hat? Und wer hat sich wann zuletzt um Milan gekümmert? Alle Fragen zum Fall beantwortet Fördern & Wohnen nicht – „aus Datenschutzgründen“, so eine Sprecherin Mitte Mai.
Allgemein erklärt das Unternehmen: „Jeden Morgen machen Mitarbeitende eine Runde durch das Haus und erkundigen sich nach dem Befinden der Bewohner.“ Das sei auch am fraglichen Tag so gewesen. „Geht es einem Bewohner nicht gut, wird die zuständige Pflegekraft informiert.“ Die kümmere sich nach der morgendlichen Pflegesprechstunde bei Bedarf auch auf den Zimmern um „Maßnahmen der Grundpflege“. Unverständlich bleibt, warum sich bis zum Besuch der Hinz&Kunzt-Mitarbeitenden niemand um den offensichtlich hilflosen Milan kümmerte.
In der Regel, so F&W weiter, seien ein bis zwei Mitarbeitende eines externen Pflegedienstes vor Ort – für 78 „besonders vulnerable“ Menschen und insgesamt 156 Bewohner:innen (Stand 14. Mai). In der neuen Unterkunft in Niendorf gibt es auch nicht mehr Pflegekräfte – für aktuell 26, bald aber mehr als 100 schwer kranke Menschen. Dass bislang so wenige Obdachlose dorthin verlegt wurden, ist Protesten aus der Nachbarschaft geschuldet (H&K April 2024). In der Friesenstraße gibt es laut F&W neuerdings zumindest eine Veränderung: „Inzwischen findet die morgendliche Runde gemeinsam mit dem Pflegedienst statt, sodass die Pflegefachkraft Veränderungen des Gesundheitszustands einschätzen und umgehend reagieren kann.“
Milan lag bei Redaktionsschluss (21. Mai) immer noch im Krankenhaus. „Es geht ihm weiterhin schlecht“, sagt Sozialarbeiterin Kohler, die den Hinz&Künztler regelmäßig besucht. „Wie gut er sich erholen wird, ist noch völlig unklar.“
Ein „Weiter so“ darf es nicht geben
Milans Schicksal ist auch die Geschichte eines brutal versagenden Systems. Ja, es gibt Hilfsangebote, auch gute. Aber es sind zu wenige. Und viele Menschen, die auf der Straße leben, können sie nicht nutzen – weil sie angeblich kein Recht auf Hilfe haben.
Dabei haben viele der Zugewanderten, bevor sie hier obdachlos wurden, über Jahre in Deutschland gearbeitet – können das aber oft nicht nachweisen, weil Papiere fehlen oder weil sie in die Schwarzarbeit gedrängt worden sind.
Es ist gut, dass die Stadt endlich eine angemessenere Unterkunft für pflegebedürftige Obdachlose eröffnet hat. Doch das Haus in Niendorf kann nur der erste Schritt sein: Die 118 Betten, die es bereithält, reichen bei Weitem nicht aus, um die vielen verelendeten Menschen von den Straßen zu holen. Was es also braucht, sind mehr Pflegeplätze für Obdachlose. Sofort mehr qualifiziertes Personal für ihre Betreuung in allen Unterkünften. Und ein Senat, der sagt: Wir ruhen nicht, bis jeder Mensch in dieser Stadt ein würdiges Leben führen kann.
Hinz&Kunzt prüft im Fall Milan rechtliche Schritte gegen die Verantwortlichen. Unabhängig davon ist klar: Ein „Weiter so“ darf es nicht geben.
Jörn Sturm ist Geschäftsführer und politischer Sprecher von Hinz&Kunzt.