Verkäuferporträt :
Valentin will in Freiheit leben

Valentin folgt aus Moldawien dem Ruf eines Jobangebots: In Hamburg werden Arbeiter zum Schiffscontainerentladen gesucht, 6,50 Euro die Stunde. Nach zehn Tagen beschäftigt ihn der dubiose Arbeitgeber nicht mehr weiter. Seitdem lebt er auf der Straße. 

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Vor zwei Jahren kam Valentin nach Hamburg und arbeitete für dubiosen Arbeitgeber, die plötzlich keine Verwendung mehr für ihn hatten.

(aus Hinz&Kunzt 280/Juni 2016)

Wenn Valentin das passende deutsche Wort sucht, zieht er einen kleinen Übersetzungscomputer aus der Tasche, tippt den Begriff in Russisch ein und sagt: „Ah! Bücher!“ Das Wohnzimmer seiner Mutter ist gefüllt mit ihnen, erzählt der Hinz&Kunzt-Verkäufer, „sie unterrichtet Literatur und Grammatik.“ Valentins Bibliothek befindet sich gemeinsam mit den Rasierutensilien in einer Tasche, die er immer mit sich trägt. Darin: zwei Grammatikbücher, zwei VerbenSammlungen und ein dickes Wörterbuch. Noch kämpft der 42-Jährige oft mit den Wörtern, doch er ist sich sicher: „Deutsch ist meine Sprache.“

Valentin stammt aus Moldawien. Nach der Schule studiert er Ingenieur für Kältetechnik, wie die Schwester und ein Onkel will er in einem Großbetrieb in der Nähe seines Heimatdorfes arbeiten. Doch als er das Studium abschließt, ist die Sowjetunion auseinandergefallen. In den ehemaligen Satellitenstaaten herrschen Korruption und Chaos. Der Betrieb, in dem Valentin seine Zukunft sah, ist geplündert worden, an eine Zukunft dort ist nicht zu denken.

Valentin lässt sich als Kellner und Barmann ausbilden. 20 Jahre arbeitet er in Restaurants und Cafés, dann findet er keine Arbeitgeber mehr. „Immer wieder haben sie mir gesagt: ,Du bist zu alt!‘ Mit 35 ist bei uns in diesem Beruf Schluss“, erzählt Valentin. Ein Jahr lang sucht er verzweifelt einen neuen Job – ohne Erfolg. Im Februar 2014 wagt er den großen Schritt.

Eine Internetanzeige lockt ihn nach Hamburg: Gesucht werden Männer, die Schiffscontainer entladen, für 6,50 Euro die Stunde. Valentin macht sich auf die Reise – und erlebt eine herbe Enttäuschung. Erst in Hamburg erfährt er: 200 Euro muss er für einen Schlafplatz in einem Vierbettzimmer zahlen. 150 Euro dafür, dass man ihm die Stadt zeigt. Und 30 Euro für Anmeldung und Gewerbeschein; offiziell soll er als Selbstständiger arbeiten und Rechnungen schreiben. Zehn Tage schuftet er für die dubiosen Arbeitgeber, dann sagen die: „Wir haben leider keine Arbeit mehr.“

Am Ende hat er nicht mal so viel verdient, wie er bezahlen musste. „Mafia!“, sagt Valentin wütend. Er geht zur Polizei, will Anzeige erstatten und findet sogar einen Beamten, der Russisch spricht. Der sagt ihm: „Es macht keinen Sinn, sich mit diesen Leuten anzulegen. Die haben Geld, und du hast keins.“

Valentin schlägt sich durch: Er sammelt Essen aus Mülltonnen und Pfandflaschen, besorgt sich einen Schlafsack und ein Zelt. In den kalten Monaten geht er ins Winternotprogramm, „16 Mann in einem Zimmer“. Einmal fängt er sich dort Krätze ein, das nächste Mal  Läuse. „Da habe ich beschlossen, lieber in der Kälte zu schlafen.“

Vor einem Jahr schickt ein Bekannter ihn zu Hinz&Kunzt. „Das war mein Glück. Seitdem habe ich viel Kontakt mit Deutschen.“ Seit Kurzem engagiert sich Valentin sogar für andere: Eine Kundin hat ihn gefragt, ob er Plastikverschlüsse sammeln mag für eine polnische Stiftung. Valentin hat gleich ein Schild gemalt: „Die Flaschendeckel helfen behinderten Kindern.“ Was er sich wünscht? „Weiter in Freiheit leben.“

Text: Ulrich Jonas, Dina Fedossova (Übersetzung)
Foto: Mauricio Bustamante