Tritte gegen Obdachlosen :
Tatverdächtiger freigesprochen

Relu (20) am Tag des Prozesses im Amtsgericht Wandsbek. Foto: Simone Deckner

Amtsgericht Wandsbek spricht Mann im Prozess um brutale Tritte gegen jungen obdachlosen Bettler frei. Beweise reichen nicht aus. Augenzeugin: „Nein, der ist es nicht.“

Hinz&Kunzt Randnotizen

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Er geht an Krücken – auch noch ein halbes Jahr nach dem brutalen Angriff auf ihn. Am 14. September 2016 war der junge rumänische Obdachlose Niculaie L., genannt Relu, vor einem Supermarkt brutal zusammen getreten und schwer verletzt worden. Dabei saß er einfach nur dort und bettelte.

Bis heute leidet der heute 20-Jährige unter den Folgen des Übergriffs. „Ich habe noch immer Schmerzen. Das Bein schwillt oft an. Ich muss Antibiotika nehmen“, sagt er am Montag im Amtsgericht Wandsbek. Er ist eigens aus Rumänien angereist, seine Eltern und ein Schwager begleiten ihn. Relu hofft, dass der Täter endlich bestraft wird.

Brutaler Angriff auf jungen Obdachlosen
Vor Penny-Markt in Rahlstedt
Brutaler Angriff auf jungen Obdachlosen
Am hellichten Tag hat ein noch unbekannter Mann den 19-jährigen obdachlosen Niculaie L. überfallen und schwer misshandelt. Das Opfer liegt im Krankenhaus.

Der Mann, der in Saaal 141 auf der Anklagebank sitzt, wird jedoch nach mehr als sieben Stunden Verhandlung freigesprochen. „Wir konnten ihm die Tat nicht nachweisen“, sagt Richter Dr. Martin. Zu viele Dinge sprächen dagegen, dass es sich beim dem Angeklagten Wladyslaw W. um jenen Mann handele, der Relu brutal misshandelt habe.

Zunächst habe der Fall nach einem „Selbstgänger“ ausgesehen, wie der Richter in seiner Urteilsbegründung ungewohnt offen sagt. Der Geschädigte hatte den Täter auf Fotos in der Polizeikartei eindeutig identifiziert. Eine Augenzeugin gab bei der Polizei an, den Täter „sicher“ erkannt zu haben. Auch andere Umstände schienen den Tatvorwurf zu untermauern: So gab Relu an, der Täter sei in einem weißen Auto vorgefahren. W. hatte am Tattag ein weißes Auto gemietet. Relu erinnerte sich an ein auffälliges Tattoo des Täters. W. ist am ganzen Körper bis hin zum Kopf stark tätowiert. Zudem saß er vor sechs Jahren schon einmal in U-Haft wegen des Vorwurfs der Körperverletzung. Damals soll es auch Gerüchte um Kontakte zu den Hells Angels gegeben haben. Nach dem Übergriff gegen Relu gab eine Augenzeugin an, dass der Täter etwas von Hells Angels gesagt habe.

Angeklagter bestreitet die Tat

Vor Gericht streitet der Angeklagte die Tat jedoch vehement ab. „Die Polizei will mir hier irgendeinen Scheiß andrehen. Ich würde niemals, schon aus rein menschlichen Gründen, einen Obdachlosen verprügeln“, verteidigt er sich. Er sei an dem Tag gar nicht in Hamburg gewesen, sondern mit seiner Freundin und zwei weiteren Freunden in Grömitz am Strand.

Die Verhandlung am Amtsgericht Wandsbek dauerte mehr als sieben Stunden. Foto: Simone Deckner.

Dem Gericht legt sein Verteidiger Fotos vom Strand und einem Hotel-Frühstück vor – nicht ohne kritische Nachfragen von Staatsanwältin, Nebenklägerin und Richter, da die Zeitangaben der Fotos teilweise Fragen aufwerfen. Ein Mitarbeiter der Autovermietung stützt jedoch die Aussage des Angeklagten. Er bestätigt, das weiße Leihauto in Grömitz an W. übergeben zu haben. An den Angeklagten erinnere er sich gut: „Ich sage mal, der hat einen hohen Wiedererkennungswert“, so der Zeuge, der damit auf die vielen Tattoos des Angeklagten anspielt – auch an eine „Knastträne“ im Gesicht des Angeklagten erinnere er sich.

Augenzeugen entlasten Tatverdächtigen

„Wieso sitzt der hier? Der war es nicht“, sagt später eine weitere Augenzeugin. Das Gericht bewertet diese Aussage hoch, weil die Frau dem Tatverdächtigen damals Auge in Auge gegenüber gestanden hatte, nachdem sie dem Geschädigten zur Hilfe geeilt war. „Der Täter stand direkt vor mir, das waren höchstens 30 bis 40 Zentimeter“, so die nervöse Zeugin. Der Mann, der rechts von ihr auf der Anklagebank sitze, sei ein anderer: viel stärker tätowiert, auch im Gesicht, braungebrannter, mit Bart.

Eine andere Augenzeugin hatte zuvor zu Protokoll gegeben, sie sei sich jetzt, wo sie den Mann sehe, nicht mehr sicher, dass es sich beim dem Tatverdächtigen um den Täter handelte. „Wenn ich ihn jetzt so sehe – nein!“

Relu identifiziert den Angeklagten – und auch wieder nicht

Vor Gericht identifiziert allein Relu den Angeklagten als den Mann, der ihn im September so schwer misshandelt habe. Aber: „Er sah da noch sehr anders aus.“ Damals habe er eine Glatze gehabt, keinen Bart und weitaus weniger Tattoos.  Der Richter hakt nach, ob einzelne Tattoos nicht noch nachträglich hinzu gekommen seien? Nur ein kleines über der Augenbraue, sagt die Freundin des Angeklagten aus.

Später legt der Richter Relu die Strandfotos des Verdächtigen vom Tattag vor. Sie sollen sein Alibi stützen und beweisen, dass er zum Tattag nicht in Hamburg war. Relu erkennt auf den Fotos W. nicht als den Täter. „Es passt alles nicht zusammen“, so der Verteidiger des Angeklagten. „Es sprechen zu viele Dinge dagegen, dass Herr W. diese Tat begangen hat“, sagt in ihrem Schlussplädoyer sogar die Anwältin der Nebenklage – und plädiert, wie Verteidigung und Staatsanwaltschaft auf Freispruch, der dann auch ergeht.

„Unbefriedigend“ sei das Urteil aus Sicht des Opfers, sagt der Richter in seiner Begründung, weil die Tat eindeutig geschehen sei, nun aber kein Täter dafür verurteilt werden konnte. „Es bleiben Restzweifel bei mir, aber diese reichen deutlich nicht aus für einen Schuldspruch“, sagte der Richter. Eine Revision ist von Seiten der Nebenklage nicht geplant. Die Kosten des Verfahrens trägt die Staatskasse.

Autor:in
Simone Deckner
Simone Deckner
Simone Deckner ist freie Journalistin mit den Schwerpunkten Kultur, Gesellschaft und Soziales. Seit 2011 arbeitet sie bei Hinz&Kunzt: sowohl online als auch fürs Heft.

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