Eine Studie zeigt: Wer aus seiner Wohnung geräumt wird, bekommt oft nicht die Hilfe, die er braucht
(aus Hinz&Kunzt 164/Oktober 2006)
Ulrich Jonas
Mehr als 3000 Menschen pro Jahr werden in Hamburg wegen Mietschulden aus ihrer Wohnung geräumt. Eine bundesweit einmalige Studie von Ethnologen der Uni Hamburg, deren Ergebnisse Hinz&Kunzt exklusiv vorab veröffentlicht, zeigt: Viele Betroffene haben so massive Probleme, dass sie an die Hand genommen werden müssten. Das geschieht zu selten, so die Forscher. Die Menschen landen in Notunterkünften, der Weg zurück ist schwierig.
Forschungsprotokoll einer Räumung: „Frau S. ist eine gepf legt wirkende Frau von etwa Mitte 30. Auf der Treppe zu ihrer Schlafebene steht noch ein großes Glas Milchkaffee – offenbar haben wir sie beim Frühstück gestört. Nun ist sie nervös und versucht hektisch, zu erklären: In letzter Zeit sei es ihr nicht so gut gegangen, und sie habe es dadurch versäumt, zum Sozialamt zu gehen, um sich dort helfen zu lassen. Jetzt gehe es ihr besser und sie hoffe, dass sie durch ihre Musik oder ihre Kunst kurzfristig genug Geld verdienen könne, um ihre Mietschulden zu bezahlen. Erst als der Spediteur fragt, ob sie jemanden kenne, bei dem sie die nächste Nacht verbringen könne und der ihr dabei helfen könnte, ihre Sachen aus der Wohnung zu räumen, scheint ihr klar zu werden, dass die ,Besucher‘ hier sind, um sie aus ihrer Wohnung zu entfernen. Ihre Antwort ist bestürzend: Bisher habe sie weder ihren Freunden noch ihren Eltern etwas von ihrer Notlage gesagt. Die Frau steht also kurz davor, aus ihrer Wohnung zu fliegen und alle ihre Besitztümer zu verlieren, doch sie versucht immer noch den Anschein von Normalität zu wahren. Dabei ist für mich offensichtlich, dass sie ihre Situation nicht richtig einschätzen kann und sie unter psychischen Problemen leidet.“
„Eine Zwangsräumung mitzuerleben war das Bedrückendste, was ich bei meiner Forschung bislang erlebt habe“, sagt Martin Gruber. Acht Monate lang ist der 37-jährige Ethnologe der Frage nachgegangen, was für Schicksale sich hinter den nackten Zahlen der Räumungs-Statistik verbergen. Was das für Menschen sind, die ihre Wohnung, in der Regel wegen Mietschulden, verlassen müssen. Und was aus ihnen wird, wenn Gerichtsvollzieher und Spediteur ihren Auftrag erledigt haben. 25 Betroffene hat Gruber interviewt, mit Mitarbeitern der Fachstellen zur Wohnungssicherung und Sozialarbeitern von Beratungsstellen gesprochen – und auch Gerichtsvollzieher zum Räumungstermin begleitet.
Wenn der vor der Tür steht, so ein Ergebnis der Studie, ist das Kind längst in den Brunnen gefallen. „Die Probleme der Menschen fangen viel früher an – auch wenn es den Betroffenen oft nicht bewusst ist“, sagt Professorin Waltraud Kokot von der Uni Hamburg. Sie hat das bundesweit einmalige Forschungsprojekt geleitet, das die Hamburger SPD initiiert und die Hamburgische Stiftung für Wissenschaft und Kultur finanziert hat. Fast alle Betroffenen, so die Autoren, waren arbeitslos und litten mehr oder weniger unter psychischen Problemen. Viele hatten schon länger Sucht- und Schuldenprobleme.
Und zu viele bekamen offenbar nicht die Hilfe, die sie brauchten. Exemplarisch schildern die Forscher den Fall von Herrn R., 56, geschieden, ein erwachsener Sohn. Er hat Speditionskaufmann gelernt, arbeitet aber seit langem als Auslieferungsfahrer. Seit Jahren hat er Schulden, auch immer wieder Mietschulden. Als er an den Knien erkrankt, lebt er von einem 400-Euro-Job und der Unterstützung seines Sohnes.
Nach dem Konkurs seines Arbeitgebers wird R. depressiv. Da er es versäumt, Sozialleistungen zu beantragen, laufen Mietschulden auf. Über ein Jahr hinweg gelingt es ihm mit Hilfe der Fachstelle, die Räumung zu verhindern. Doch irgendwann gibt er auf und kümmert sich nicht mehr. Und offenbar auch nicht die Fachstelle.
Wie die meisten Betroffenen, mit denen Martin Gruber gesprochen hat, landet R. nach der Zwangsräumung nicht auf der Straße. Für einige Wochen nimmt ihn seine Ex-Frau bei sich auf. Da er seinen Sohn nicht um Hilfe bitten will, zieht er anschließend in ein Männerwohnheim. Von da an nimmt die Geschichte einen besonderen Verlauf, so die Forscher: „Viele, die ihre Wohnungen verlieren, sind danach zunächst völlig gelähmt. Sie brauchen oft Wochen oder Monate, um sich wieder um Dinge zu kümmern, die über das Alltägliche hinausgehen.“ Anders R., den die Räumung offenbar wachgerüttelt hat: Dank eigener Initiative findet er einen Platz in einer Kirchenkate, beantragt erfolgreich Arbeitslosengeld II und sucht sich eine Seniorenwohnung, in der er heute lebt.
R.s Geschichte ist die Ausnahme: Die Mehrzahl von Grubers Gesprächspartnern lebt für eine längere Zeit in städtischen Notunterkünften, teilweise mehrere Jahre. „Richtig schlimm finde ich das bei Leuten mit Kindern“, sagt der Ethnologe. Er hat eine vierköpfige Familie besucht, die auf 50 Quadratmetern leben muss. Die habe zwar auf Initiative der Fachstelle einige Angebote von Wohnungsunternehmen erhalten. Doch überschritten die Mietkosten jedes Mal die Grenzen dessen, was die Arbeitsgemeinschaft (ARGE) zu zahlen bereit ist. Fazit der Forscher: Die Behörde müsse den steigenden Mieten in Hamburg Rechnung tragen. Auch wenn die Autoren einräumen, dass ihre Studie nicht repräsentativ im statistischen Sinne ist und es längerfristiger Forschung bedarf: Verbesserungsvorschläge machen sie. Bezahlbare Wohnungen müssten gebaut und mehr Beratungsstellen für Schuldner eingerichtet werden.
Um Zwangsräumungen zu verhindern, bräuchten viele Betroffene „eine intensivere sozialtherapeutische Betreuung“ – wie es das „Fachstellenkonzept“ der Behörde eigentlich auch vorsieht. Komme es trotz aller Bemühungen zur Räumung, sollte immer auch ein Sozialarbeiter vor Ort sein, um den Menschen zu helfen.
Das Schicksal der Frau S. hat Martin Gruber bewegt. Nachdem der Gerichtsvollzieher entschied, die Zwangsräumung um eine Woche zu verschieben, um der Frau die Chance zu geben, ihre Wohnung leer zu übergeben, schrieb Gruber dem Mann vom Amt eine Mail und fragte, ob man die Räumung nicht noch verhindern könne. Der antwortete, er habe deswegen ohnehin bereits telefoniert – sowohl mit den Fachstelle als auch mit dem sozialpsychiatrischen Dienst.
Offenbar kommt dieser Hilfeversuch zu spät: Frau S. wird eine Woche später aus ihrer Wohnung geräumt. Sie kommt zunächst bei einer Nachbarin unter, die Hilfe angeboten hat. Wo sie heute lebt, ist nicht bekannt.
Wer zwei Monatsmieten im Verzug ist, dem kann gekündigt werden. Ist das Mietverhältnis beendet und der Mieter verlässt nicht freiwillig die Wohnung, kann der Vermieter vor Gericht eine Räumungsklage einreichen. Ein Anhörungstermin oder ein schriftliches Vorverfahren gibt beiden Seiten Gelegenheit zur Stellungnahme. Fällt das Gericht ein Räumungsurteil, kann der Vermieter das Zwangsvollstreckungsverfahren einleiten.
Die Fachstellen für Wohnungsnotfälle werden über jede Räumungsklage informiert. Sie sollen Zwangsräumungen verhindern, gegebenenfalls mit Hilfe von Hausbesuchen. Wer geräumt wird, bekommt vom Gerichtsvollzieher eine Liste mit Adressen von Notunterkünften in die Hand gedrückt. Was der Betroffene nicht mitnehmen kann, wird zwei Monate lang bei einer Spedition eingelagert. Kann der Zwangsgeräumte bis dahin seine Mietschulden nicht begleichen, werden die pfändbaren Habseligkeiten versteigert. Alles andere wandert, sofern der Betroffene es nicht abholt, auf den Müll.