Immer öfter werden Jugendliche aus Hamburg abgeschoben
(aus Hinz&Kunzt 134/April 2004)
Was die Abschiebung von Jugendlichen ohne ihre Eltern angeht, ist Hamburg im Bundesgebiet führend. Jugendredakteur Philipp Ratfisch sprach mit Mochtaba und mit Marija, zwei Hamburger Flüchtlingen, die Deutschland verlassen sollen.
Sie kamen nachts. Etwa ein Dutzend Fremde standen um ein Uhr plötzlich in der Wohnung und rissen Marija aus dem Schlaf. Sie war mit ihrem kleinen Bruder allein zu Hause, und sie wussten von nichts. Wo ihr älterer Bruder sei, wollten die Männer wissen. Er war bei seinem Onkel. Marija rief dort an. Als der große Bruder eintraf, nahmen die Fremden ihn mit. Seitdem hat sie ihn nicht wiedergesehen. Eine Szene aus Hamburg, im Jahr 2002. „Mein Bruder wurde abgeschoben, weil er 19 Jahre alt, also volljährig war“, erzählt Marija.
Vor fünf Jahren flohen die Kosovo-Albanerin und ihre Familie vor der Verfolgung durch die Serben. Seitdem leben sie mit einer Duldung in Hamburg. Marija ist 19. Bisher verhindert das Attest ihrer Therapeutin die Abschiebung. Die hat ihr bescheinigt, dass sie durch die Erfahrungen im Kosovo traumatisiert ist.
Nächtliche Abschiebungen, Ausweisungen von Kindern und Jugendlichen, getrennt von ihren Eltern – das Vorgehen der Hamburger Ausländerbehörde ist härter geworden in den vergangenen Monaten. Bekanntestes Beispiel ist der „Fall“ Oppong. Die minderjährigen Schülerinnen sollten abgeschoben werden, obwohl ihre Mutter legal in Hamburg lebt. Der Fall schlug so hohe Wellen, dass selbst die New York Times besorgt darüber berichtete, und die Ausländerbehörde einlenkte. Jetzt müssen die Kinder pro forma noch einmal ausreisen, um dann legal einzureisen.
Mochtaba (17) ist Deutscher. Sagt er. In seinen Papieren steht „afghanisch“. Als er zehn Jahre alt war, floh er mit seinen Eltern und seinen beiden jüngeren Schwestern vor den Taliban nach Deutschland. Schnell lernte er die neue Sprache, geht in Hamburg zur Schule. Er ist ein guter Schüler. Seit einiger Zeit ist er Klassensprecher. In seinem Leben hat er noch keine Straftat begangen. Vor zwei Jahren nahm er mit seiner Klasse an einem bundesweiten Schülerwettbewerb teil und durfte als einer der Gewinner nach Berlin reisen. Ziemlich stolz war er, als Bundespräsident Johannes Rau ihm persönlich gratulierte.
Mochtaba ist das perfekte Beispiel für eine gelungene Integration, wie sie von Politikern oft gefordert wird. Dennoch schickte die Ausländerbehörde der Familie im Sommer vergangenen Jahres einen Brief, der sie aufforderte, binnen eines Monats nach Afghanistan zurückzukehren. „Ich weiß gar nicht, wie das Leben da ist“, sagt Mochtaba. An seine alte Heimat hat er eher schlechte Erinnerungen: „Ich war zehn Jahre lang in Afghanistan. Da war nur Krieg, da habe ich nur Schlimmes erlebt.“
Auch heute ist die Lage in seiner ehemaligen Heimat alles andere als sicher. „Falls ich abgeschoben werde, muss ich gleich zur Armee“, erklärt Mochtaba. Obwohl die Taliban offiziell keine Gefahr mehr darstellen, fürchtet die Familie um ihr Leben. „Mein Vater steht noch immer auf ihren Todeslisten.“ Immerhin hat Mochtaba in seiner Klasse Rückhalt. Gemeinsam kämpft die 10b des Alexander-von-Humboldt-Gymnasiums dafür, dass die Familie in Hamburg bleiben darf. Sie haben schon mehr als 800 Unterschriften gesammelt und drei Briefe an Ole von Beust geschrieben.
„Ich finde es unvorstellbar, wie man entscheiden kann, junge Menschen in eine so ungewisse Zukunft zu schicken“, sagt Klassenkameradin Verena Bergholter (17) aufgebracht. „Und das in dem Bewusstsein, dass die Familie in Afghanistan verfolgt wird und der Vater ermordet werden soll.“ Und Mitschüler Jan-Martin Lürs (16) ergänzt: „Abgesehen davon ist es doch unlogisch, dass man Mochtaba zuerst die Gelegenheit gibt, eine Schulausbildung anzufangen, und ihm dann die Möglichkeit nimmt, sie zu Ende zu führen.“ Eine Antwort auf ihre Briefe hat die Klasse zwar bekommen. „Doch in dem Brief vom Bürgerbüro stand eigentlich nur drin, dass sie versuchen, unseren Brief weiterzuleiten“, sagt Melanie Koch (16).
Unterdessen droht auch Marijas jüngerem Bruder die Abschiebung. Er ist im Januar 18 geworden. Und er hat Angst, genauso perspektivlos zu werden wie sein älterer Bruder. Am 11. Februar sollte er abgeschoben werden. In letzter Minute schaffte er es, in das EQUAL-Programm der EU aufgenommen zu werden. Durch die Teilnahme an den Berufsvorbereitungskursen für Asylbewerber ist er vorerst vor der Abschiebung geschützt. Was danach passiert, ist unklar.
Ihren älteren Bruder hat Marija seit anderthalb Jahren nicht gesehen. Er wohnt bei einem Onkel im Kosovo. „Er hat mir am Telefon erzählt, dass es ihm überhaupt nicht gut geht. Zur Schule kann er dort nicht gehen, und Arbeit gibt es auch nicht“, sagt Marija. „Wenn eine Familie keine Arbeit findet, bedeutet das für sie das Ende.“ Auch Marija nimmt am EQUAL-Programm teil. Ein Leben im Kosovo kann sie sich nicht vorstellen. Schließlich hat sich die Familie in den fünf Jahren in Hamburg ein neues Leben aufgebaut. Was schwierig genug war: „Meine Eltern dürfen nur zwei Stunden am Tag arbeiten, obwohl sie gerne mehr arbeiten würden“, erklärt Marija die Situation, in der sich auch Mochtabas Eltern befinden.
„Erlebnisse wie die nächtliche Abschiebung holen die Ängste häufig wieder hoch“, erklärt Almut Jöde vom Fluchtpunkt Hamburg. „Das sind Gefühle oder Situationen, die denen im Krieg oder bei Verfolgungen sehr ähnlich sind.“ Alle zwei bis drei Monate muss die Familie zur Ausländerbehörde gehen, um ihre Duldung verlängern zu lassen. Die Besuche stellen eine weitere große Belastung dar. „Wir müssen immer erst vier, fünf Stunden warten“, erzählt Marija. „Jedes Mal, wenn wir an die Reihe kommen, wird uns gesagt: ‚Ihr werdet abgeschoben.‘ Diese Ohnmacht, die man dann empfindet, ist furchtbar.“ Die Familie hat eine Befugnis beantragt. Das Verfahren läuft noch. Wer eine Aufenthaltsbefugnis besitzt, kann – anders als bei einer Duldung – nicht vor Ablauf der Frist abgeschoben werden. „Das Problem ist nur, dass die Abschiebung trotzdem weiter betrieben wird“, sagt die Fluchtpunkt-Mitarbeiterin Almut Jöde.
Mochtaba und seine Familie hingegen können sich für eine Weile wieder etwas sicherer fühlen. Sie haben einen Anwalt eingeschaltet und einen Antrag auf Asyl gestellt. Sollte der Asylantrag abgelehnt werden, müsste Mochtaba mit seinen Eltern und seinen sieben und zwölf Jahre alten Schwestern wohl zurück nach Afghanistan. Aber Mochtaba hofft weiter auf das Engagement seiner Mitschüler. Von den Behörden ist er allerdings enttäuscht. „Früher hatte ich mal Zukunftspläne. Ich wollte Informatiker werden. Aber dann kam dieser Brief, und meine ganzen Pläne waren weg.“
Marija wartet darauf, wie die Behörde über den Befugnisantrag entscheiden wird. Falls sie ihn ablehnt, muss sie weiterhin alle paar Wochen ihre Duldung verlängern lassen – im besten Falle. Denn oft schieben die Behörden selbst dann ab, wenn ein Attest vorliegt.
Wie auch immer die Entscheidung ausfallen wird: Die Erlebnisse um die Abschiebung ihres Bruders und die Angst vor der eigenen Zukunft belasten sie weiterhin. „Wir leben in ständiger Angst“, erzählt sie. „Nachts können wir nicht schlafen, weil wir damit rechnen, dass sie jederzeit kommen – obwohl die Duldung verlängert worden ist.“