Was tut sich in Wilhelmsburg? Armutsviertel oder aufstrebender Stadtteil? Ein Rundgang anlässlich der Internationalen Bauausstellung durch das Herz von Wilhelmsburg – das Reiherstiegviertel.
(aus Hinz&Kunzt 241/März 2013)
Nun ist es also so weit: Am 23. März eröffnet nach sieben Jahren Planungs- und Bauzeit in Wilhelmsburg die Internationale Bauausstellung (IBA), die den Elbstadtteil in die Zukunft katapultieren will. Stadtplaner, Architekten, Touristen, aber auch ganz normale Hamburger werden zu Hauf auf die Elbinsel fahren und sich staunend umschauen, was es alles an neuer Architektur so gibt.
Der 23. März wird aber auch für den Urwilhelmsburger Hans Reimer Schumacher ein wichtiger Tag werden: Er schließt dann sein Fischgeschäft in der Fährstraße im Herzen des Reiherstiegviertels. Er wird abends ein letztes Mal nach draußen gehen, die Fahne mit dem Schriftzug „Fisch Brötchen“ aus der Verankerung nehmen, sie wegstellen und sie nicht wieder hervorholen. Seit 43 Jahren steht er hinter dem Tresen. Schlägt Fischfilets in Papier ein, füllt Heringssalat in kleine Plastikschalen. Er schnaubt durch die Nase: „Ich hör immer, Wilhelmsburg wird aufgewertet und schick.“ Also, er merke davon nichts. Rein gar nichts.
Ja, ja, die IBA. Er zeigt Richtung Süden: „Das spielt sich alles beim Bahnhof, beim Rathaus ab.“ Er spitzt die Lippen: „Das ist jetzt die sogenannte neue Mitte Wilhelmsburg!“ Hypermoderne Häuser wurden dort aus dem Boden gestampft, mit schiefen Dächern und schrägen Fassaden; garniert mit Energiesparmaßnahmen vom Feinsten und in ungewöhnlichen Farben gehalten. „Muss man mögen“, sagt Schumacher, er mag es eher nicht. Aber das ist nicht das, was ihn umtreibt: „Es ist keine Kaufkraft mehr im Viertel; das Viertel ist abgekoppelt.“ Er will es nicht sagen, aber dann spricht er es doch aus: „Das ist hier ein Armutsstadtteil.“
Hans Reimer Schumacher wollte nicht Fischhändler werden. „Aber dann starb mein Vater sehr früh und meine Mutter und meine Schwester standen mit den Angestellten alleine da, und da bin ich eben zurück nach Hause.“ Zeitweise standen sie zu siebt hinter dem Verkaufstresen. Hans Reimer Schumacher geht zur Kasse, tippt auf die Tasten: „Damals, als man freitags noch überwiegend Fisch aß, bekam von unseren Angestellten der, der den 1000sten Kunden bediente, einen ganzen Aal geschenkt.“ Er hebt die Stimme: „der 1000ste Kunde!“ Letzten Freitag waren es am Ende gerade mal 65 Kunden. „Glauben Sie mir, ich mag manchmal gar nicht ausrechnen, was ich so am Tag verdient habe.“
Er nimmt das den Wilhelmsburgern gar nicht krumm, dass sie keinen Fisch bei ihm kaufen: „Ich muss für ein Kilo Rotbarschfilet 20,50 Euro nehmen, um auf meine Kosten zu kommen. Das sind – ich rechne immer noch in D-Mark – gut 40 Mark. Wenn ich das früher auf meine Tafel geschrieben hätte, die Leute hätten gesagt: ‚Jetzt spinnt der Schumacher, jetzt dreht er durch.‘ Heute findet man das völlig normal.“ Aber das sei hier schließlich nicht Eppendorf …
Früher war das anders: Früher, das war, als hier das Zentrum von Wilhelmsburg war und es sieben Fischgeschäfte und zehn Schlachtereien gab. Als genau vor seinem Geschäft die Straßenbahn der Linie 2 hielt, die Wilhelmsburg mit der Veddel, dem Hauptbahnhof, Niendorf und Schnelsen verband und Wilhelmsburg so selbstverständlich ein Teil der Hansestadt Hamburg war. Bis diese sich im Laufe der 70er entschließt, die Elbinsel abzukoppeln und im März 1976 die Straßenbahnverbindung kappt. „Damals haben wir auf einen Schlag die Hälfte unserer Kunden verloren.“ Immerhin hat er einen Cateringservice etabliert, liefert auf der ganzen Insel kalte Platten aus, das will er weitermachen. Und er will hier wohnen bleiben: „Solange es irgend möglich ist.“
„Hier ist Multikulti und: Leute, es funktioniert!“ – Aylin Caterina Bonnano
„Der Fischmann schließt?“, fragt Aylin Caterina Bonanno entsetzt. „Mit dem bin ich aufgewachsen, da hab ich mir als Kind immer meine Rollmöpse geholt!“ Die junge Frau, die Eventmanagerin oder noch lieber Richterin werden will, bedient im „Don Matteo“, einem italienischen Lokal in der Vehringstraße. Sie ist in Wilhelmsburg als Tochter eines Türken und einer Italienerin aufgewachsen. Das Restaurant haben ihre Mutter und zwei ihrer Tanten gegründet. Sie lacht: „Wir sind ein starker Frauenladen. Denn die Männer haben gesagt: ‚Das wird nichts, das könnt ihr vergessen.‘“
Und jetzt? Der Laden läuft: „Früher saßen hier nur Wilhelmsburger, jetzt kommen auch mal Leute aus Altona und sogar aus Pinneberg.“ Von daher gehören Aylin Bonanno und ihre Familie zu den Gewinnern des wachsenden Interesses an Wilhelmsburg. Allerdings: Der Stadtteil verändere sich: „Die Mieten steigen, es wird aber auch schicker.“ Stabil ist der schlechte Ruf des Viertels: „Wenn ich meinen Lehrern sagte: ‚Ja, ich wohne hier‘, kamen die immer mit ‚Oh, krasses Viertel‘ und ‚Getto‘ und ‚Voll gefährlich‘. Aber ich habe mich hier immer absolut sicher gefühlt und mir ist auch nie etwas passiert.“ Sie sagt: „Hier ist Multikulti und: Leute, es funktioniert!“ Sie sagt: „Hier kennt jeder jeden und meine Mutter kennt sie alle.“
Wo Aylin Caterina Bonanno wohnt, gleich um die Ecke, geht es drei Stufen hoch ins „Blaue Gold“, ein schönes, helles Café mit großen Scheiben zur Straße hin. Christiane Röll hat es vor gut anderthalb Jahren eröffnet – und sucht nun einen Nachfolger. „Dafür, dass es in einer Wohngegend liegt, ist es gut besucht, aber ich habe ein kleines Kind, will nur halbtags arbeiten, und jemanden einstellen, der sich um den großen Rest kümmert, rentiert sich nicht“, erzählt sie. Auch sie hat einen Cateringservice, ist damit schon ausgelastet, ist etwa mit den Wilhelmsburger Konspirativen Küchenkonzerten verbandelt, längst mehr als ein Geheimtipp in der Musikszene. Sie ist hoffnungsvoll, dass es weitergeht mit dem Café, das dann nicht mehr ihres ist: Zwei Interessenten haben sich in den letzten Tagen gemeldet. Schließlich sei es hier noch möglich, etwas Neues zu gründen, nicht wie drüben in Hamburg, wo man 20.000 bis 40.000 Euro an Abstand für irgendwas auf den Tisch legen muss.
Was ihr am Stadtteil gefällt: „Die Wilhelmsburger sind absolut unkompliziert. Dass sich mal jemand beschwert, seine schlechte Laune an dir auslässt, wie du das in der Gastronomie täglich hast, das geschieht hier vielleicht ein Mal im halben Jahr. Höchstens!“ Sie erwartet nicht, dass sich Wilhelmsburg radikal wandelt: „Aber es werden mehr Menschen hierherziehen, man sieht schon jetzt mehr von diesen hippen, jungen Familien.“ Sie kennt den Rhythmus von Aufwertung und Vertreibung – aus dem Karolinenviertel, wo sie vorher wohnte: „Am Anfang war es da bunt und durchmischt, aber dann waren innerhalb von vielleicht zwei Jahren plötzlich alle Leute mit nur wenig Geld weg, und die Marktstraße wurde die reinste Shoppingmeile.“ Es kann also ganz schnell gehen. Sie fragt: „Waren Sie schon beim Rialto Kino?“
Das liegt noch eine Ecke weiter, am Vogelhüttendeich. Eines von vormals fünf Wilhelmsburger Kinos, das auch Reihertheater genannt wurde und in dem Fischmann Schumacher manchen Samstagabend und Sonntagnachmittag sehr gern verbrachte. Seit 1987 steht es leer, es regnete durch das Dach. nun aber ist Stephan Reifenrath vor Ort und scheut nicht Mühen und nicht Zeit, um gemeinsam mit drei Dutzend Mitstreitern das Kino im IBA-Sommer noch einmal auferstehen zu lassen. Ursprünglich kommt er aus Köln, wohnt seit 1979 in Hamburg, zog vor vier Jahren nach Wilhelmsburg, nachdem er zuvor in Eppendorf lebte: „Eppendorf war mir einfach zu tot, hier aber kannst du noch etwas bewegen. Das ist noch ein richtiger Kiez, mehr als 80 Ethnien auf kleinstem Raum, das erzeugt Reibung, erzeugt Wärme.“ Der Stadtteil habe ihn mit offenen Armen empfangen: „Es war wie unter eine Decke zu schlüpfen, ich habe in Hamburg das erste Mal das Gefühl von Heimat.“ Er wundert sich: „Wir alle lieben New York mit seinem Vielvölkergemisch, aber über Wilhelmsburg heißt es: ‚Komischer Stadtteil … alles Verbrecher … alles Ölaugen.‘“
Und das ist der Plan: Anfang Mai bis Ende Oktober soll das Kino für 180 Tage eröffnen – und 180 Veranstaltungen durchführen. Originalsprachige Filme wird es geben, und die Wilhelmsburger sind aufgerufen, eine Top-50-Liste ihrer Lieblingsfilme zu erstellen: „Wir suchen Leute, die vielleicht sagen: ‚Ich hab hier Bud Spencer geguckt‘ oder ‚Bei dem und dem Film hab ich meinen ersten Kuss bekommen‘ – und dann zeigen wir diese Filme.“ Dazu gesellt sich Literatur, Theater, Musik: „Wir werden schauen, ob es unter den Bulgren, über die viele so schimpfen, nicht Musiker gibt und ob wir nicht eine Band zusammenstellen können.“ Zusätzlich wird es jeden Vormittag kostenlos Kino für alle Schulen geben.
„Wenn draußen wieder die Leuchtreklame angeht, das wird großartig“, sagt Reifenrath. In der Tat: Man muss sich nur vor das Kino stellen und sieht, wie immer wieder Leute im Schritttempo vorbeifahren, auf das Kino zeigen, oder wie sie stehen bleiben und ihre Einkaufstaschen abstellen: „Als wir anfingen den ersten Schutt herauszutragen, kamen pro Tag um die 100 Leute, um zu schauen, was hier passiert.“ Und dann ist alles wieder vorbei, wenn auch die IBA schließt. Oder es kommt doch einer, der viel Geld auf den Tisch legt? Die Stadt Hamburg habe schon mal signalisiert, dass mit ihr nicht zu rechnen sei. „Ja, ja, die Elbphilharmonie!“, lacht Reifenrath. Aber es geht ihm gar nicht darum, nun das einstige Kino um jeden Preis zu erhalten: „Ohne den Wandel gibt es keine Weiterentwicklung, und das Rialto hat seine Zeit gehabt. Genaugenommen ist es schon verschwunden, es wird nun noch einmal für eine gewisse Zeit wiederbelebt.“ So wird das Kino auch nicht 1-a-renoviert werden, es werden nur die Treppen und die Aufgänge verkehrssicher gemacht: „Wir möchten, dass man den Saal mit seinen Geschichten hört, dass man auch die Zeit des Leerstandes spürt, dass man die Löcher in der Decke sieht – diese Zeitzeugen-Löcher.“ Ironie der Geschichte: Hätte das Rialto 50 Jahre leer gestanden, würde es heute Bestandsschutz genießen.
Länger leer stand auch das Wilhelmsburger Gesundheitsamt am Rotenhäuser Damm, ein solider 50er- Jahre-Bau. Doch seit die IBA vor Ort ist, ist hier wieder Leben: Studenten der HafenCity Universität erproben seit vier Jahren eine „Universität der Nachbarschaft“. Sie haben das Gebäude eigenhändig umgebaut, eine kleine Wohnung eingerichtet, halten Seminare und Workshops ab, im Garten steht ein Baumhaus, gemeinsam erbaut mit Nachbarn. Nun ist ihr letztes Jahr angebrochen, ihr Abschlussprojekt steht an: das „Hotel Wilhelmsburg“, pünktlich zum IBA-Sommer, danach geht das Gebäude zurück an die Stadt. „Aber vorher wird das Haus eingerüstet, wird erweitert zu einem Kapselhotel, wie man es aus Japan kennt, wo der Individualbereich minimiert und optimiert ist, der Gemeinschaftsbereich entsprechend großzügig ausfällt“, erzählt Projektleiter Benjamin Becker. Wo so viel wert auf Gemeinschaft und Begegnung gelegt wird, legt man schon mal los: Seit einigen Wochen eröffnet je am Mittwochabend ein Restaurant und eine Bar.
Dazu bedient sich das Projekt der vorhandenen Gastronomie des Viertels: Das Restaurant „Deichdiele“ hat hier ebenso seine Küche aufgeschlagen wie das „Kebapchi“; der Koch aus dem Freizeitzentrum „Honigfabrik“ war schon da, auch Christiane Röll vom Blauen Gold hat hier schon gekocht. „Heute ist es die Crew vom ‚Soulkitchen‘, die den Abend mit uns gestaltet“, erzählt Jenny Ohlenschläger, die Landschaftsarchitektur studiert und in der Küche mithilft. Die Szene ist jung, entsprechend gibt es zwei vegetarische Gerichte und nur eines mit Fleisch: Wilhelmsburger Gulasch.
Man kennt sich, man umarmt sich gern, mitten im Trubel sitzt ein junger Mann vor seinem Laptop. Und immer mehr Gäste kommen hinzu, auch Stephan Reifenrath vom neuen, alten Rialto mit seinen Mitstreitern ist eingetroffen, fachsimpelt, plaudert, der DJ legt erst chillige, dann die richtige, schnelle Musik auf, für all diese jungen Leute, die bald ausschwärmen werden, der Welt ein neues Gesicht zu geben, dank dem, was sie hier über Architektur, Stadtplanung und Bürgerbeteiligung ganz praktisch gelernt haben.
Und Wilhelmsburg? Wird sich alles ändern? „Das wird noch ein harter Abschied“, sagt Hans Reimer Schumacher: „Es tut mir ja auch leid, dass ich schließe, aber was soll ich machen?“ Christiane Röll blickt aus dem Fenster: „Es ist so schön normal hier.“ Stephan Reifenrath verschließt sein Kino, das eine so hoffnungsvolle Baustelle ist: „Du wohnst hier ein halbes Jahr und wirst mit Namen gegrüßt. Das wird sich ändern. Das ist eben Stadt.“ Und Aylin hat bald Feierabend, sie sagt: „Wilhelmsburg ist toll, ich bin hier total gerne.“ Sie sagt: Wobei – Hamburg ist auch eine schönes Stadt.“
Text: Frank Keil
Fotos: Dmitrij Leltschuk