Geflüchteten aus der Ukraine droht Abschiebung

„Man warf mich aus dem Camp“

Angella und Ahmed lebten bis zum Kriegsbeginn in Charkiw. Foto: Mauricio Bustamante

Nach Hamburg fliehen auch Studierende aus der Ukraine, die keinen ukrainischen Pass haben. Ihren Schutz müssen sie sich erst erkämpfen, ihnen drohen Obdachlosigkeit und Abschiebung. Autorin Anna-Elisa Jakob und Fotograf Mauricio Bustamante haben fünf von ihnen getroffen.

Hinz&Kunzt Randnotizen

Freitags informieren wir per Mail über die Nachrichten der Woche:

Ibrahim, Angella, Rachad und all die anderen hier ­hatten sich in der Ukraine ein Leben aufgebaut, und ­eigentlich noch ein ganzes vor sich. Es ist Zufall, dass die meisten von ihnen aus Charkiw sind, der Stadt, die nur etwa 40 Kilometer von der russischen Grenze entfernt liegt; ein Zufall wie der, dass sie auf unterschiedlichen Wegen nach Hamburg fanden.

Wer aus der Ukraine geflohen ist, bekommt eigentlich ein vorläufiges Aufenthaltsrecht, mit dem man arbeiten und studieren kann. Wer keinen ukrainischen Pass hat, für den gilt das nicht. Laut Schätzungen des Bundesinnenministeriums betrifft das rund drei Prozent der Ukraineflüchtlinge; die meisten von ihnen sind ­Studierende, geboren in nichteuropäischen Staaten wie Nigeria, Marokko oder dem Sudan. Sie flohen vor dem russischen Angriff, gelten in Deutschland aber nicht als Kriegsflüchtlinge.

Einige von ihnen treffen sich regelmäßig, wie an diesem Oktoberabend in der Uni Hamburg. Sie diskutieren über die Zukunft; aus verschiedenen Gründen wollen sie nicht in ihr Herkunftsland zurück. Aus Angst vor Gewalt, aufgrund fehlender Perspektiven oder der Hoffnung auf eine Rückkehr in die Ukraine. Man merkt, sie kennen das Campusleben. Tragen Hoodies und Jeans, debattieren stundenlang.

Rachad ist mit 29 Jahren einer der ältesten. Er zog vor mehr als vier Jahren aus Marokko in die Ukraine, studierte internationale Wirtschaftswissenschaften und arbeitete als Banker. Er spricht Arabisch, Englisch, Französisch und ­Russisch. Deutschland kannte er nur aus den Nachrichten, sagt er. Aber dass er hier als Flüchtling auf der Straße ­schlafen müsse, das habe er nicht erwartet.

„Als ich mich in Hamburg registrierte, saß mir eine Beamtin gegenüber. Sie sah meine Dokumente an, ich hatte alles dabei: meine ­Abschlüsse, meine Aufenthaltserlaubnis für die Ukraine, alle Nachweise, dass ich dort gelebt hatte und vor dem Krieg geflohen war. Sie sagte: ,Du bist illegal hier. Entweder stellst du einen Asylantrag oder du ­verlässt Deutschland.‘ Ich war verwirrt, ich hatte das auf Hamburgs offizieller Website gelesen: Für Geflüchtete aus der Ukraine gelte ­Paragraf 24, sie können damit studieren. Auf hamburg.de, das ist doch eine seriöse Seite? Der Beamtin habe ich geantwortet, ich kann das nicht sofort entscheiden. Sie behielt meine Dokumente und schickte mich in ein Flüchtlingscamp. Dort war ich ohne Pass, ohne Aufenthaltserlaubnis, ohne finanzielle Unterstützung. In der Ausländerbehörde fragte ich nach meinen Dokumenten. Beim zweiten Mal hieß es, wenn ich noch einmal käme, würden sie die Polizei rufen. Einen Monat später wurde mein Antrag abgelehnt.“

Viele der Studierenden erzählen, dass ihnen Pass und Aufenthaltserlaubnis abgenommen wurden, manchen
für mehrere Wochen. Das Amt für Migration schreibt auf Anfrage, dies sei erlaubt, wenn ein Asylantrag gestellt werde oder jemand Deutschland verlassen müsse. In solchen Fällen werde aber immer ein Ersatzpapier ausgestellt, die Betroffenen bestätigen das. Für sie ersetzte dieses Papier trotzdem nicht das Gefühl, mit ihren Dokumenten die einzige Sicherheit verloren zu haben, die ihnen in ihrer Situation noch geblieben war. Und die für manche, wie für Rachad, immer unsicherer wurde:

„Zwei Tage später, es war ein Freitagabend, warf man mich aus dem Camp. Man gab mir eine Wegbeschreibung zum ,Pik As‘, einer Übernachtungsstelle für Obdachlose. Dort hieß es, dass ich ukrainische Dokumente habe und sie mich nicht aufnehmen könnten. Es war Wochenende, alle Hotels waren ausgebucht. Also schlief ich eine Nacht am Hauptbahnhof. Erst danach habe ich Asmara getroffen. Sie hat mir geholfen, nun wohne ich erst mal in einem Hotelzimmer.“

Asmara Habtezion gründete die Organisation „Asmaras World“, die sich seit Beginn des Krieges für
Geflüchtete ohne ukrainischen Pass einsetzt. Ihr Team berät Betroffene, um für sie eine klare Perspektive zu erkämpfen. Sie organisiert auch Räume, wo sich die Gruppe treffen kann.

Im April entschied der Hamburger Senat, Studierenden ohne ukrainischen Pass eine „Fiktionsbescheinigung“ auszustellen. Mit der sie ein halbes Jahr lang arbeiten, Deutschkurse besuchen, Sozialhilfe erhalten und sich für ein Studium bewerben können. Damit schöpfe Hamburg alle Möglichkeiten aus, die der Bund den Ländern gestattet.

Mehr als 800 Betroffene haben eine solche Fiktion erhalten, bei den meisten läuft sie in diesen Tagen aus. Um in Hamburg studieren zu können, müssen sie nun nachweisen, dass sie Deutsch lernen und ihren Lebensunterhalt sichern können. Pro Asyl fordert die Öffnung des BaföG und den Zugang zu Stipen­dien, da vielen sonst die Abschiebung droht. So wie Ahmed. Er ist 22 Jahre alt, seit fünf Jahren studiert er Medizin.

„Ich habe sofort Deutsch gelernt, Intensivkurse besucht, jetzt bin ich auf Niveau B1. Für Medizin braucht man C1, ich lerne also weiter. Ich habe mich an den Universitäten beworben und wurde angenommen für ein Programm der medizinischen Fakultät der Uni Hamburg. Einen Studienplatz habe ich also, aber am 25. Oktober läuft meine Fiktion aus. Ich brauche ein Sperrkonto mit 10.000 Euro, das ist die Voraussetzung für Studierende aus dem Ausland. Es ist, als würden sie unmögliche Hürden für uns aufstellen. Erst schnell die Sprache lernen, dann 10.000 Euro? Als Student? Es interessiert niemanden, wie viel ich mich anstrenge, wie viel ich mich bemühe, um in diese Gesellschaft zu finden. Man setzt mich nur immer weiter unter Druck.“

Die Berichte der Studierenden lassen sich für Hinz&Kunzt nur teilweise überprüfen, ihre Fluchtwege ziehen sich meist über mehrere Länder hinweg. Alle Geschichten erzählen aber von monatelanger Unsicherheit nach der Flucht, so wie bei Malika. Sie ist 21 Jahre alt und studiert Medizin.

„Als ich mich im Mai registrieren wollte, hatten alle meine Freunde schon eine Fiktionsbescheinigung bekommen. Nur ich nicht. Man sagte mir, ich müsse in eine andere Stadt, Nustrow, 200 Kilometer von
Hamburg entfernt. Dort sollte ich leben, obwohl ich in Hamburg schon ein Zimmer ­gefunden hatte, an einem Deutschkurs und einem Vorbereitungskurs der Uni teilnahm. Sie nahmen meinen Pass und sagten, in Nustrow könne ich ihn abholen.

Zwei Monate lang versuchte ich, meine Dokumente wiederzubekommen, im Juni bekam ich einen Termin in der Ausländer­behörde. Diesmal sprach ich mit einer Frau, die offenbar die Leiterin war und sagte, dass ich Asyl beantragt hatte, obwohl ich das gar nicht müsse. Sie ging zu dem Kollegen, bei dem ich mich registriert hatte und fragte, warum er das gemacht habe. Ich glaube, viele in den Behörden kennen ­unsere Situation nicht. Das Schlimme ist, dass wir es sind, die darunter leiden. Bei diesem Termin habe ich eine Fiktion bekommen, sie gilt noch ein paar ­Monate. Meine Dokumente habe ich erst einen Monat später zurückbekommen.“

Und dann gibt es noch diejenigen, die bis heute keine Fiktion erhalten haben. Asmara Habtezion schätzt, allein in Hamburg seien das noch mal mehrere Hundert. Sie leben seit ihrer Ankunft in Duldung, dürfen also nicht arbeiten, bekommen keine Sozialhilfe und können jederzeit abgeschoben werden. So wie Angella, 23 Jahre alt, die seit fünf Jahren Pharmazie studiert:

„Am 24. Februar bin ich aufgewacht und hörte Explosionen. Zwei Nächte schlief ich in einem Bunker unter unserem Studentenwohnheim in Charkiw. Meine Schwester Victoria war gerade erst aus Nigeria in die Ukraine gezogen, sie ist 17 Jahre alt. Am 28. Februar gingen wir zum Bahnhof, es gab ­Sirenen, Explosionen, alle wollten in den Zug. Die ­Menschen wurden aggressiv, einer hatte ein Messer unter dem Hemd. Es war chaotisch und ich wollte nur nach Hause, aber meine Schwester war stärker als ich und sagte, wir müssen in den Zug kommen. Wir fuhren 26 Stunden in die Westukraine, von dort nach Ungarn und nach Berlin. Wir lebten bei einer Privatperson, Anna-Maria, und ich dachte: Oh, wie nett sind die Deutschen. Meine Schwester und ich wachten da noch jeden Morgen auf, weil wir von Explosionen träumten.

Als wir bei ­Anna-Maria ausziehen mussten, gingen wir nach Hamburg und wollten uns registrieren. Ich war zuerst dran, zeigte ­meinen Pass und meine ukrainische Aufenthaltserlaubnis. Man sagte mir, ich habe keinen Beweis, in der Ukraine studiert zu haben, deshalb bekam ich keine ­Fiktion. Ich müsse für eine Befragung wiederkommen, solange sollte ich meinen Pass abgeben und durfte in einem Flüchtlingscamp bleiben.

Meine Schwester weigerte sich, ihren Pass abzugeben und musste die Unterkunft verlassen. Sie war obdachlos und fuhr erst mal zurück nach Berlin. Deshalb sind wir jetzt getrennt.

Ich habe mit 18 Jahren Nigeria verlassen, um zu studieren. Ich wurde in der Ukraine erwachsen, ich bin zur Ukrainerin geworden. Wir brauchen eine Chance, um unser Leben zurückzubekommen, so wie alle anderen Ukrainer:innen sie hier auch bekommen. Wir sind nicht kriminell, wir sind gemeinsam einem Krieg entkommen. Wir sollten genauso als Kriegsflüchtlinge gelten.“

Angella spricht schnell und bestimmt. Eine andere junge Frau stellt sich daneben, nickt vehement, sagt: „Ja, erzähl ihnen deine Geschichte!“ Andere sind stiller. So wie Achraf, dessen Antrag auf Fiktion vor ein paar Stunden abgelehnt wurde. Er ist 23 Jahre alt, geboren in Marokko, seit vier Jahren studiert er Veterinärmedizin.

„Andere aus Marokko oder Algerien haben eine Fiktions­bescheinigung bekommen, weil sie in der Ukraine studiert ­haben. Sie können arbeiten und bekommen etwas Sozialhilfe. Ich kann gar nichts machen. Ich verstehe nicht, wie diese Entscheidungen getroffen werden. Wer bekommt welche Rechte? Wa­rum behandeln sie mich so? Ich möchte mich wieder lebendig fühlen. Es ist, als hätte man mich schon umgebracht, nicht physisch, aber mental. Ich habe keine Freude mehr daran, irgendetwas zu tun.“

Anders als bei anderen Ukraineflücht­lingen muss die Ausländerbehörde bei Drittstaatsangehörigen erst prüfen, ob sie aus der ­Ukraine nach Deutschland geflohen sind. Sei das nicht sicher, könne keine Fiktion ausgestellt ­werden. Ibrahim, 22 Jahre alt, unterschrieb einen Asyl­antrag, weil man ihm gesagt hatte, eine andere Unterstützung werde er nicht bekommen. Mittlerweile geht eine Anwältin ­dagegen vor, er hat Zusagen von zwei Hochschulen. Trotzdem lebt er in ständiger Angst vor der Abschiebung:

„Ich gehe nicht zurück nach Nigeria, dort ist kein Frieden, Menschen werden entführt oder aus­geraubt, Schulen angegriffen. Deshalb bin ich ja in die Ukraine gegangen. Ich habe erst Wirtschaftswissenschaften, dann Landwirtschaft studiert, arbeitete in der Produktion von Cashew­nüssen.

Im ,Hamburg Welcome Center‘ sagten sie, ich bräuchte ein Schreiben meiner Universität in Poltawa, um zu beweisen, dass ich dort studiert habe. Aber meine Dekanin schrieb mir, das ginge nicht. Dass ich mein Studium beenden und meine Studiengebühren zahlen solle. Wie sollte ich dorthin zurück? Es ist Krieg! Ich zahlte die Gebühren, im Juni wurde ich exmatrikuliert. Auch das genügte der Ausländer­behörde nicht. Ich könne mich nur für Asyl bewerben. Sie fragten mich, warum ich Deutschland gewählt habe. Ich sagte, Deutschland lebt in Frieden.

Es ist schon dunkel draußen, doch einige sind noch in der Uni und reden. Immer wieder kommen neue Leute hinzu, gerade erst ein junger Typ mit Rollkoffer. Es geht in diesem Raum um Politik, sagen sie, es geht um Rassismus. Sie erzählen von ihren Erfahrungen und erinnern sich an ihre Rechte. Sie wollen sie gemeinsam nicht vergessen.

Artikel aus der Ausgabe:

Tafeln vor dem Kollaps

Schwerpunkt Ehrenamt: Wie mehr als 1200 Freiwillige Hamburgs Obdachlosen helfen und wieso das problematisch ist. Sozialsenatorin Melanie Leonhard (SPD) spricht im Interview über die Überwindung der  Obdachlosigkeit. Außerdem: Wieso Antiquariate ums Überleben kämpfen und manchen Geflüchteten aus der Ukraine die Abschiebung droht.

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Autor:in
Anna-Elisa Jakob
Anna-Elisa Jakob
Ist 1997 geboren, hat Politikwissenschaften in München studiert und ist für den Master in Internationaler Kriminologie nach Hamburg gezogen. Schreibt für Hinz&Kunzt seit 2021.

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