Sie nennen sich die „älteste Boygroup der Welt“ und feierten jüngst ihr 20-jähriges Bühnenjubiläum. Am 26. Januar 2016 spielten Ulrich Tukur & Die Rhythmus Boys ein „Best-of“-Benefizkonzert für Hinz&Kunzt. Wir haben mit ihnen zuvor über ihre Anfänge auf der Straße, Streitkultur und Furzkissen gesprochen.
HINZ&KUNZT: Herr Tukur, Sie besitzen weit über 1000 Schellackplatten. Ihre Begeisterung für die Musik der 30er-Jahre soll eine Frau ausgelöst haben: Ihre Tante.
ULRICH TUKUR: Ja, das stimmt. Zu meiner Konfirmation hat sie mir einen Stapel Schellackplatten geschenkt. Ich weiß nicht, welcher Hafer sie da gestochen hat: Es war 1972 und solche Musik war überhaupt nicht populär. Mein Onkel steuerte ein Koffer-Grammophon bei. Die erste Platte, die ich mir darauf angehört habe, hieß „Mondnacht auf Kuba“, eine unglaubliche Schnulze. Und dann „A Handful Of Keys“ von Fats Waller, ein berühmter US-Jazzpianist. So etwas hatte ich noch nie gehört. Von da an war ich infiziert. Es war nicht mehr die Streitfrage: Beatles oder Rolling Stones? Aber das blieb lange mein Geheimnis.
Sie hätten vor allem als hoffnungslos uncool da gestanden.
TUKUR: Genau. Wie hätte ich meinen Freunden auch erklären können, dass mir Hans-Albers-Lieder besser gefielen als die Musik von Deep Purple oder Led Zeppelin? Erst sehr viel später habe ich Brüder im Geiste gefunden, die das auch verstanden haben.
Wann fing das an?
TUKUR: Während unseres Germanistikstudiums. Ulrich Mayer (Mitbegründer der Rhythmus Boys, d. Red.) und ich gaben für eine Seminararbeit Tucholsky-Chansons zum Besten. Das kam derart gut an, dass wir damit auf die Straße gingen. Einer der ersten Sprüche, die wir dann abbekommen haben, war: „Was seid ihr denn für Neonazis!“
Weil sie in Knickerbocker aufgetreten sind?
ULRICH MAYER: Nein, weil wir nur deutsche Musik aus den 30er-Jahren gespielt haben.
Stichwort Straßenmusik: Was haben Sie in dieser Zeit gelernt?
MAYER: Die Straße ist wunderbar und gnadenlos zugleich. Du kannst einfach stehen gelassen werden. Du musst es also schaffen, dass die Leute da bleiben.
GÜNTER MÄRTENS: Mir ist auf der Straße mal ein Glas Bier ins Gesicht geschüttet worden von jemandem, der nicht so begeistert war. Damit musst du irgendwie umgehen. Du darfst dir keine Blöße geben, musst Haltung bewahren.
TUKUR: Die Straße war meine Schauspielschule und viel mehr: Man lernt, spontan zu sein, man lernt zu improvisieren.
Wie bleibt man als Band 20 Jahre zusammen, ohne sich zu hassen?
KALLE MEWS: Wir reden viel miteinander. Und wir streiten auch.
„Wir sind sehr gegensätzliche Typen“ – Kalle Mews
Die Rhythmus Boys sind eine kommunikationsstarke Kapelle?
MEWS: Ja, und das, obwohl wir sehr gegensätzliche Typen sind. Günter und ich, der Größte und der Kleinste, wir geraten manchmal ganz schön aneinander. Aber durch unsere Verschiedenheit können wir uns auch auf wunderliche Weise gegenseitig inspirieren.
Nervt es trotzdem, wenn der bekannte Schauspieler Tukur oft im Mittelpunkt steht?
MÄRTENS: Tukur ist natürlich das Zugpferd. Wobei wir uns auch in den vergangenen 20 Jahren als Rhythmus Boys ein Publikum erspielt haben. Aber Uli kann sich da auch tatsächlich einordnen. Wenn Stücke ausgesucht werden, sagt er niemals: „Das wird gemacht!“ Wir sind wirklich eine Band, nicht nur ein Bandleader mit irgendwelchen Musikern.
TUKUR: Ich bin ein Ensemble-Mensch, nur so gut, wie die Menschen, mit denen ich arbeite. Ich möchte nicht permanent im Zentrum stehen. Machtpositionen waren mir immer peinlich.
Ihr aktuelles Album heißt „Let’s Misbehave“, also: Benehmt euch daneben! Glauben Sie, dass es bei der ganzen politischen Korrektheit heute umgekehrt eine Sehnsucht nach Regelverstoß gibt?
MÄRTENS: Unbedingt! Dass ist wirklich ein Ärgernis, dass du heute bei jedem Schritt reglementiert wirst. Ständig wird dir der erhobene Zeigefinger entgegengehalten. Das wollten wir ein bisschen aufbrechen. Eigentlich hat doch auch jeder Mensch die Neigung dazu, Regeln zu brechen.
MEWS: Wir Musiker mussten auch über unseren Schatten springen und sagen: „Lass doch mal den falschen Ton drin.“
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Weitere InformationenSpricht genau das die Menschen an in einer Welt, in der sich alle unentwegt selbst optimieren?
MEWS: Meine Tochter hat mal mitbekommen, dass wir es bei einem Auftritt bei einem Stück nicht geschafft haben, den Background-Chor zu singen. Ich hatte im Publikum eine ältere Dame gesehen, die über einen schmutzigen Witz von Tukur fassungslos gelacht hat. Sie hatte die Hände vors Gesicht geschlagen, und ich sah nur die Schultern zucken und dann habe ich auch das ganze Stück über gelacht. Meine Tochter fragte mich danach: „Sag mal, Papa, dieses eine Stück, wo du so gelacht hast, das war ja gut! Habt ihr das geplant?“ Das war im Grunde ein echtes Geschenk für die Situation.
MÄRTENS: Es geht ja darum, dass die Leute sich amüsieren, dass sie gut gelaunt rausgehen und dass sie glücklich sind in den zwei Stunden, die sie da sind.
„Musik hat mir einmal fast das Leben gerettet“ – Günter Märtens
Nicht nur Ulrich Tukur, alle Rhythmus Boys sind eng mit Musik und Schauspielerei verbunden. Wenn jetzt eine Fee kommen und fragen würde: Musik oder Spiel?
MÄRTENS: Musik. Gar keine Frage. Die Musik hat mir eigentlich schon mal fast das Leben gerettet.
In welcher Situation?
MÄRTENS: Ich hatte mich mal als Jugendlicher ziemlich verirrt. Damals bin ich im Drogensumpf fast abgesoffen. Irgendwann bin ich an den Punkt gekommen, mich zu fragen: Was will ich jetzt eigentlich? Will ich mich weiter mit Drogen ruinieren? Oder mache ich jetzt was dagegen und tue das, was ich wirklich will, nämlich: Musik machen.
Wie kam es denn zu der Entscheidung für die Musik?
MÄRTENS: Ich war am Abstürzen, hatte sogar schon einen Suizidversuch hinter mir. Meine Familie und Freunde wurden immer unglücklicher. Ich wurde gemocht, aber keiner konnte mir mehr helfen. Dann war mir irgendwann klar: Jetzt bist du mal gefragt, eine Entscheidung zu treffen! Eigentlich ist mir der Schritt dann auch leicht gefallen. Ich habe damals eine Therapie gemacht, die ging zwei Jahre. Und vom ersten Tag an wusste ich, das ist genau der richtige Weg.
TUKUR: Ich würde auch die Musik nehmen. Das macht mir am meisten Spaß. Musik geht direkt in die Herzen der Menschen und verbindet Kulturen. Sie ist für mich die Königin der Künste. Damit fing es ja auch alles an: Erst war der Rhythmus da.
MAYER: Erst kam der Rhythmus und dann der Boy (lacht).
Wie wichtig ist Humor für Ihr Selbstverständnis als Künstler?
MÄRTENS: Sehr wichtig. Man muss eine gewisse Selbstironie haben, eine Distanz zu sich selbst. Dann kann man erkennen, was für eine lächerliche Figur man manchmal so abgibt. Genau das musst du zu deiner Stärke machen. Das ist im Grunde das, was wir auf die Bühne stellen: Eigentlich sind wir eine Band von lächerlichen Figuren, die aber diese Lächerlichkeit kultiviert haben und damit die Leute unterhalten.
MEWS: Es gibt ja auch diesen optischen Orgelpfeifeneffekt bei uns – wir haben das Glück, dass wir gar nicht viel machen müssen.
MÄRTENS: Deshalb nennen wir uns ja auch eine optische Tanzkapelle. Das ist das Theatralische auf der Bühne. Nur hinstellen und alte Lieder nachspielen wäre auch zu wenig.
Benehmen Sie sich auf der Bühne daneben?
MEWS: Bevor wir dem Publikum Vorwürfe machen, dass sie husten, machen wir es selber. Manchmal furzen wir auch.
MÄRTENS: Wir haben mal in der ersten Reihe ein Furzkissen versteckt. Tukur hatte eine Fernbedienung dafür. Dann hatte sich eine Frau hingesetzt, aber man hat gar nichts gehört, weil es im Saal zu laut war. Er ist immer dichter an diese Frau mit seiner Fernbedienung ran, bis man irgendwann ein ganz leises Furzgeräusch gehört hat (lacht).
MEWS: Wir lassen uns auch mit Sachen beschmeißen. Wir haben schon Tomaten abbekommen …
MÄRTENS: … und irgendwann hat mal einer einen verwesten Karpfen geworfen. Das war irgendwo im Badischen. Die haben ja nur Karpfen, die haben ja keine echten Fische. (lacht)
Interview: Simone Deckner
Fotos: Daniel Cramer (Porträts), Katharina John