Sie schreibt über korrupte Politiker, Umweltskandale und vergewaltigte Frauen in ihrer Heimat Indien – und wurde dafür fast selbst umgebracht. Trotzdem wird die Journalistin Tongam Rina ihr Exil bei der Stiftung für politisch Verfolgte in Hamburg bald wieder verlassen. Ein Gespräch darüber, warum aufgeben keine Option ist.
(aus Hinz&Kunzt 253/März 2014)
Hinz&Kunzt: Sie wurden wegen Ihrer Artikel massiv bedroht. 2012 schoss Sie ein Unbekannter nieder und verletzte Sie lebensgefährlich. Haben Sie nie daran gedacht, Ihren Job aufzugeben?
Tongam Rina: Nein, nicht nur ich wurde bedroht oder zusammengeschlagen. Alle meine Kollegen haben Erfahrungen in dieser Art gemacht. Man gewöhnt sich daran. Unsere Arbeit stößt einigen Leuten in der Gesellschaft übel auf. Es ist ja so: Von außen betrachtet wirkt Indien wunderschön. Wir sind die größte Demokratie, es gibt Pressefreiheit und das Recht auf freie Meinungsäußerung. Das hört sich alles sehr gut an, aber wenn man tatsächlich dort arbeitet, gilt das nicht. Du bist auf dich allein gestellt. Das ist natürlich deprimierend. Du fragst dich: Warum muss ich einen Preis dafür bezahlen, dass ich meine Meinung sage? Aber ich habe großen Rückhalt und Unterstützung bekommen, seitdem ich 2006 angefangen habe, investigativ zu arbeiten. Außerdem wäre ich ohne das Schreiben verloren. Es ist das Einzige, was ich kann. (lacht) Ich zeige meine Wut und meine Freude durch das Schreiben. Auch nach dem Anschlag. Ich versuche, ruhig zu bleiben und mir zu sagen, dass nicht alles verloren ist. Ich werde nicht aufhören.
Sie sprechen immer wieder kritische Themen an, auch die Gewalt gegen Frauen. Zuletzt ist die westliche Welt durch Nachrichten über Massenvergewaltigungen geschockt gewesen. Wie ist das Leben für eine indische Frau?
Hart. Deprimierend. Unsere Gesellschaft hat sich an die Tatsache gewöhnt, dass Frauen weniger wert sind. In diesem Geist werden Kinder erzogen. Gewalt gegen Frauen ist ganz normal. Es wird akzeptiert, wenn ein Mann eine Frau in der Öffentlichkeit schlägt. Es gibt zwar Gesetze, die Frauen vor Vergewaltigung schützen sollen, aber sie bleiben ohne Effekt, weil sie nicht angewandt werden.
„Die meisten Familien in Indien freuen sich nicht, wenn sie eine Tochter bekommen.“
Die Gesetze existieren nur auf dem Papier?
Ja. Gewalt gegen Frauen wird akzeptiert. Jahrelang haben Soldaten der indischen Armee Frauen in Kaschmir vergewaltigt. Man kann die Soldaten aber nicht deswegen anklagen, weil sie durch einen Paragrafen geschützt sind. Als im Dezember 2012 der schlimme Fall der jungen Frau publik wurde, die von mehreren Männern in einem Bus vergewaltigt wurde und später an den Folgen starb, waren alle schockiert. Das ist Heuchelei. Wir wissen von diesen Fällen seit vielen Jahren. Die Mentalität wird sich so schnell nicht ändern.
Auch nicht dadurch, dass die Weltöffentlichkeit jetzt genauer auf Indien schaut?
Ich glaube nicht daran. Sie werden noch mehr solcher schrecklichen Geschichten lesen. Seien Sie nicht schockiert. Es passiert nichts, um es zu ändern. Nehmen Sie die Erziehung: Die meisten Familien in Indien freuen sich nicht, wenn sie eine Tochter bekommen: „Nächstes Mal ein Junge“, sagen sie. Wenn es doch noch ein zweites Mädchen wird, weiß man, was ihr Schicksal sein wird. 60 Prozent der indischen Bevölkerung leben unter oder an der Armutsgrenze. Solange die Nachrichten diese Menschen nicht erreichen und die Männer nicht die klare Ansage bekommen: „Wenn du einer Frau Gewalt antust, kannst du ins Gefängnis kommen“, wird sich gar nichts ändern. Damit müssen wir uns beschäftigen. Selbst ich höre oft: „Wie kannst du nur so schreiben, Frau?!“ Sie sprechen mich nicht mit meinem Namen an, sondern nennen mich nur „Frau“. So würden sie nicht mit einem männlichen Kollegen umgehen.
„Ich arbeite mit Frauen, die Opfer von Gewalt wurden. Das bringt mehr, als darüber zu schreiben.“
Aber für Frauen, die Ihre Artikel lesen, können Sie Vorbild sein.
Ich weiß nicht, ob ich einen solchen Einfluss habe. Jedes Mädchen in Indien wird irgendwann einmal Opfer von Diskriminierung werden, und zwar allein deshalb, weil sie eine Frau ist. Indien hat eine Kultur von Missbrauch gegenüber Frauen. Vergewaltigung ist eine Kultur. Sie wird als Waffe gebraucht. Ich rege mich sehr auf, wenn ich über dieses Thema spreche. Ich schreibe gar nicht genug darüber. Ich arbeite aber mit Frauen, die Opfer von Gewalt wurden. Das bringt mehr, als darüber zu schreiben. Seit 2003 unterstütze ich die Arunachal Pradesh Women Welfare Society, die es seit 30 Jahren gibt.
Wie helfen die Organisationen den Frauen?
Wir beraten Opfer von Gewalt juristisch und unterstützen sie bei Selbsthilfe-Programmen, die von Partnerorganisationen geleitet werden. Meistens geht es darum, sie finanziell unabhängiger zu machen. Ich dokumentiere die Arbeit und helfe bei der Suche nach Wohnungen. Polygamie ist ein großes Problem. Wenn die Ehe scheitert, werden die Frauen normalerweise aus dem Haus geschmissen. Und verlieren oft nicht nur ihre Bleibe, sondern auch ihre Kinder. Nicht alle Frauen kommen in Großfamilien unter, viele von ihnen müssen auch in Übergangswohnungen leben.
Haben Sie auch eine hoffnungsvolle Geschichte für uns?
Kennen Sie die Schönheitssalons in Indien? Man bekommt nicht nur eine Kosmetikbehandlung, sondern auch eine Massage. Und Männer haben keinen Zutritt. Viele junge Frauen arbeiten in diesen kleinen, hässlichen und schmutzigen Salons, aber sie verdienen wenigstens ein bisschen Geld und gewinnen dadurch Selbstbewusstsein. Weil sie nicht den ganzen Tag zu Hause sitzen, sondern zur Arbeit gehen können.
„Negativität soll mein Leben nicht bestimmen.“
Sie waren die letzten Monate in Hamburg sicher. Hat Sie das gestärkt?
Ja, ich fühle mich sehr gestärkt. Ich wurde hier bestens medizinisch versorgt. Heute habe ich zum ersten Mal meine Krücken zu Hause gelassen. (lacht) Und ich habe meine mentale Stärke wiedergefunden. Ich möchte nicht traurig sein oder mich selbst bemitleiden und dauernd grübeln, was passiert ist. Negativität soll mein Leben nicht bestimmen. Ich habe hier so viele Menschen kennengelernt, die in ähnlichen Situationen sind wie ich, auch durch die Stiftung. Ich bin nicht allein.
Wie ist der Teil Indiens, in den Sie zurückkehren werden?
Überhaupt nicht mit Hamburg zu vergleichen, das sind zwei verschiedene Welten: Der Staat Arunachal Pradesh liegt im armen Nordosten an der Grenze zu China. Es ist ziemlich bergig, ziemlich hässlich und ziemlich dreckig. Aber für mich trotzdem wunderschön. Man sieht Gipfel überall. Das habe ich im flachen Hamburg vermisst. (lacht)
Wissen Sie schon, woran Sie als erstes schreiben werden, wenn Sie wieder in Indien sind?
Ja, an einem Text über Lebensmittelsicherheit und Korruption. Und ich werde weiter meinen kleinen Anteil an der Arbeit der Frauenorganisation haben. Wissen Sie, ich bin ein ziemlich sexistischer Mensch. Ich möchte mich nicht für das Wohl von Männern einsetzen, ich will mich für das Wohl von Frauen einsetzen. (lacht)
Vielen Dank für das Gespräch!
Interview: Simone Deckner
Foto: Dmitrij Leltschuk
Hamburger Stiftung für politisch Verfolgte: www.hamburger-stiftung.de
Tongam Rinas Kolumne für die Arunachal Times: www.huklink.de/rina