„Landstreicher“ wie der Hamburger Fritz Eichler lebten gefährlich im „Dritten Reich“. Seine Geschichte erschien im Juni 1994 in Hinz&Kunzt zum ersten Mal.
(aus Hinz&Kunzt 186/August 2008)
Fritz Eichler kennt Deutschland wie seine Westentasche. Zu Fuß und mit dem Fahrrad hat er in den 30er-Jahren das Land durchstreift. Er war einer von etwa 400.000 Menschen, die damals auf der Straße lebten. Eine gefährliche Sache. Die Nationalsozialisten, die seit 1933 an der Macht waren, zogen ihre Schlinge um die „Landstreicher“ immer enger.
Krümel, wie Fritz Eichler wegen seiner zarten Statur genannt wurde, verlor in der Wirtschaftskrise seine Arbeit in einem Tapetengeschäft in der Grindelallee. Etwas Neues in Hamburg zu finden, hielt er für aussichtslos. Fritz, knapp 21 Jahre alt, machte aus der Not eine Tugend. „Ich hatte doch nur die Chance, unterwegs etwas Arbeit zu finden“, sagt der heute 94-Jährige. „Und ich wollte raus. Wollte weg von meinem strengen Vater, die Natur genießen und Abenteuer erleben.“
Im Januar 1935 zog er mit Freunden los. Er besaß nur Hose und Jacke, derbe Schuhe und eine Schiebermütze. In den Saum der Jacke hatte er fünf Mark Notgeld eingenäht. Erste Station: das Arbeitsdienstlager Soltau – durch Arbeit ein Wanderbuch „verdienen“. Die Nazis hatten das Wandern noch nicht verboten, versuchten aber, die Straßen zu kontrollieren. Wer kein Wanderbuch hatte, riskierte Gefängnis oder Arbeitshaus. Eichler und seine Freunde wussten nicht viel über diese „Sonderbehandlung“. Sie hielten sich auch nicht für gefährdet. „Wir wollten ja arbeiten.“
Beispielsweise in einer der Wanderarbeitsstätten, die es seit Ende des 19. Jahrhunderts auf eine Initiative des Pastors Friedrich von Bodelschwingh gab. Sein Motto: Arbeit statt Almosen. Eichler war nur mäßig begeistert von den Anstalten, in denen für eine einfache Mahlzeit und ein Bett hart angepackt werden musste. Oft musste man sich für mehrere Tage verpflichten: Holz hacken, Gräben ausheben, im Garten oder in der Küche arbeiten.
„Einige Zeit hatte ich keine Lust dazu“, sagt Fritz Eichler. „Ich wollte mich auf eigene Faust durchschlagen.“ Abends mussten sich die Wanderer aber polizeilich melden und bekamen eine Pritsche zugewiesen: in einer Zelle im Rathauskeller, einem Kartoffelverschlag oder einem Bunker. „Der wurde dann meistens von außen abgeschlossen“, sagt Eichler. „Ich war froh, wenn ich nicht alleine in so einem Bunker eingesperrt wurde.“
Dort lernte er auch „Speckjäger“ kennen, wie Eichler die alten Tippelbrüder nannte. „So wie die wollte ich nie werden. Ich wusste, dass ich irgendwann einmal nach Hause zurückkehren würde – und ich hoffte auch, wieder eine richtige Arbeit zu finden.“ Vorerst begnügte er sich mit Aushilfsjobs: als Kassierer für ein Karussell, einen Marktplatz fegen, das Fahrrad eines Polizisten schrubben.
Wenn es keine Arbeit gab, bettelte er. Eines Tages – er war mit seinem Bruder Siegfried im Fränkischen unterwegs – überkam ihn Heißhunger auf fränkische Knödel und Kuchen zum Nachtisch. „Ich versprach meinem Bruder, dass wir beides bekommen würden.“ Die beiden hielten die Hand auf – und speisten später wie die Fürsten.
Die Rechnung kam am nächsten Morgen. In aller Frühe wurden sie von einem Gendarmen geweckt und abgeführt. Betteln war verboten! Ein Schnellrichter verurteilte die Brüder zu drei Tagen Haft. Es blieb nicht die einzige Begegnung mit der Justiz. In Karlsruhe wurden sie in einer „Herberge zur Heimat“, in der obdachlose Wanderer für einen Pfennigbetrag nächtigen konnten, von der Kripo aus dem Schlaf gerissen. „Wir waren damals ein halbes Jahr ohne Erwerb“, sagt Eichler. „Man betrachtete uns als Landstreicher.“ Der Schnellrichter meinte es jedoch relativ gut mit ihnen: fünf Tage Haft – auf Bewährung.
Tippelbrüder, die die Wanderarbeitsstätten mieden, lebten gefährlich. Schon im Herbst 1933 hatten die neuen Machthaber gezeigt, was sie mit den „Arbeitsscheuen“ vorhatten: In den „Bettlerwochen“ verhafteten sie Zehntausende von Bettlern und „Landstreichern“. Zwar gab es Verhaftungen und Gefängnisstrafen für Bettler auch schon in der Weimarer Republik. Doch die Aktionen der Nazis waren derart flächendeckend, dass bereits geschlossene Gefängnisse wieder geöffnet werden mussten und spezielle Bettlerhaftlager errichtet wurden.
Die Nachfolger von Bodelschwingh und die Wanderfürsorge unterstützten die Nazis. Pastor Paul Braune begrüßte das Durchgreifen der neuen Machthaber als „eine glückliche Verbindung von Polizei und Fürsorge oder von Zucht und Liebe“. 1936 verboten die Nationalsozialisten auch das geordnete Wandern. Menschen ohne festen Wohnsitz wurden als „asoziale Volksschädlinge“ kriminalisiert. 1938 wurden bei einer „Säuberungsaktion“ rund 11.000 Nichtsesshafte verhaftet und in Konzentrationslager gebracht. Die Wanderfürsorge lieferte Hunderte von Tippelbrüdern an die Nazis aus. Sogar Zwangssterilisationen von „minderwertigen Landstreichern“ wurden befürwortet. Erst als von Euthanasie die Rede war, protestierte Pastor Braune bei Hitler. Es war zu spät. Seine Meinung interessierte Hitler nicht.
Für Fritz Eichler gab es allerdings ein gutes Ende. Er kehrte vor den großen Säuberungsaktionen nach Hamburg zurück, überlebte den Krieg und bekam später eine Stelle in einem Lederwaren-Lager.
Heute ist Fritz Eichler 94 Jahre alt und mit seinem Gehwagen noch mobil. Er führt Tagebuch – seit mittlerweile 80 Jahren. Immer noch sei er viel unterwegs: „Heute gehe ich auf Gedankenreise und schaue mir Landschaftsfilme an. Und meine Träume habe ich schließlich auch noch.“
Birgit Müller / BEB
Fritz Eichlers Geschichte erschien im Juni 1994 in Hinz&Kunzt zum ersten Mal. Jetzt drucken wir sie noch einmal aus aktuellem Anlass: Im August präsentieren Hinz&Kunzt und fördern und wohnen die Ausstellung „Wohnungslose im Nationalsozialismus“ (6.8. bis 4.9., täglich 10.30–17.30 Uhr, Mahnmal St. Nikolai, Willy-Brandt-Str. 60, Eintritt 2 bis 3,50 Euro inkl. Fahrt mit dem Panoramalift). Eröffnung mit Vortrag am 5.8., 18 Uhr, Eintritt frei.